eckard klages
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Kurzgeschichten

 

Auf dieser Seite befinden sich Kurzgeschichten, die in verschiedenen Anthologien erschienen sind. Die Bücher gibt es häufig nur noch gebraucht. 

 

 

Beate                                                                                                         Eckard Klages

 

Aschenbrenner fuhr die Mansholter Straße in Richtung Bokel. Sein Autoradio war auf Bremen 1 eingestellt und er sang laut „All right now“ mit. Den Rhythmus hämmerte er dazu laut und wild auf dem Lenkrad. Mit Beate war es wieder richtig toll gewesen. „Geil, geil, geil, “ sang er statt „All right now“ als er auf die Kreuzung in Bokel zufuhr und sah, dass in Bernds Kneipe noch Licht war. „Beate ist im Bett die absolute Traumfrau“, dachte er und er fühlte sich wie ein junger Gott. „Sex ist am besten, wenn nicht ganz so viel Gefühl im Spiel ist“. Nach dem ersten wilden Sex ging es bei Beate erst so richtig los. Sie hatte wirklich Spaß am Sex und sie zeigte ihm es auch. Beate hatte ein kleines Häuschen in der Mansholter Straße geerbt, sie wohnte dort allein. Das Haus würde auch für zwei Leute reichen. Ein kleiner hübscher Garten in einer Wohngegend zum neidisch werden. Beate hatte einen guten Job bei der Landwirtschaftskammer in Oldenburg. Sie kochte göttlich. Heute hatte es pochiertes Schweinefilet mit Sahne-Senf-Schnittlauchsoße gegeben. Einfach köstlich! Es passte alles. Nur Aschenbrenner passte es nicht, er hatte Angst wieder in diesen spießigen Trott zu verfallen, in dem er mit seiner Ex-Frau gelandet war. Er hatte inzwischen herausgefunden, dass es nicht an den Frauen lag, dass er sich in einer Beziehung so massiv veränderte. Sein innerer Schweinehund schaltete um auf Bequemlichkeit, wenn sich alles von alleine bot und Beate würde ihn mit absoluter Sicherheit verwöhnen und umsorgen. Sie wartete voller Sehnsucht darauf seine Geliebte, seine Köchin und seine mütterlich treu sorgende Frau zu werden. Aschenbrenner hatte Angst vor einer solchen Beziehung. Es gab ja auch noch Manu, seine Kollegin und Freundin. Sich womöglich rechtfertigen zu müssen, wenn er Lust hatte mit Manu nach der Arbeit durch diverse Kneipen zu ziehen, davor graute ihm erst recht.

Er parkte sein Auto auf Bernds privaten Parkplatz und trat in die Kneipe.

Moin, eins von den schönen kühlen Bieren hätte ich gern.“

„Na so lange noch dienstlich unterwegs?“ Bernd wusste genau wo Aschenbrenner herkam auch wenn es eigentlich ein Geheimnis war, aber was gibt es auf dem Dorf, was ein Wirt oder eine Friseurin nicht weiß?

„Tja“, sagte Aschenbrenner, „man tut was man kann. Ich habe mich ganz tüchtig auf ein Bier und einen Dörgeneiten gefreut. Mach uns doch mal, ach Quatsch, mach uns mal 6 Stück. An der Theke saßen noch 4 Sänger des Gesangvereins „Frohsinn Bokel“. Sie hatten einen schweren Übungsabend hinter sich und den ließen sie hier gemütlich ausklingen. Bernd stellte die Kurzen auf die Theke. Ohne erkennbares Zeichen stimmten die 4 Bässe ein Trinklied an: „Er ist ein wackerer Kumpan, wir stoßen freudig mit ihm an“! Aschenbrenner bedankte sich lachend und sagte: „Prost“. Sie diskutierten über die Probleme der Weltpolitik, über die Benzinpreise und über die abermaligen Probleme von Werder Bremen Meister zu werden. Sie hatten für jedes Problem phantastische Lösungen bereit, erzählten Witze, klopften Sprüche und sich auf die Schenkel. Wie es so Brauch ist auf dem Land, blieb es nicht bei einer Runde  Dörgeneiten und ein Bier gegen den Durst gehört ja schließlich auch dazu.  Aschenbrenner sagte: „Ich glaube, ich muss heute wieder mit Blaulicht nach Hause fahren.“ Alles grölte und die Sänger versprachen eifrig Aschenbrenner zum Auto zu tragen. Aschenbrenners Handy klingelte. „Scheiße!“ sagte Aschenbrenner, „jetzt bitte keinen Einsatz mehr, lieber noch ein paar Schnäpse“. Es war Beate. Sie weinte. „Hallo“, sagte Aschenbrenner. An der Theke war es Augenblicklich still. „Hier schleicht jemand ums Haus. Er hat versucht die Dachrinne hochzuklettern, da ist er abgerutscht. Er gibt aber nicht auf. Ich habe tierische Angst.“

„Ich komme“, sagte Aschenbrenner, „lass einfach das Handy an.“ Zur Theke rief er: „Ich komme nächsten Donnerstag wieder, schreib das bitte für mich auf.“

Aschenbrenner fuhr die Mansholter Straße runter und bog 200 Meter vor dem Haus auf eine Garageneinfahrt ein. Er legte sein Polizeischild auf das Armaturenbrett und machte sich zu Fuß auf den Weg. Im Schutz der Bäume hatte er es leicht vorwärts zu kommen. An einer Gartenmauer lehnte ein Fahrrad, es war nicht abgeschlossen. Der Schlüssel steckte. Aschenbrenner schloss das Fahrrad ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Wenn der Einbrecher mit dem Rad gekommen war, dann wollte er ihm seine eventuelle Flucht nicht so leicht machen.

Eine Blechdose klapperte. Er nahm sein Handy in die Hand und ging hinter einem Busch in Deckung. In der Ferne bellte ein Hund, ein anderer antwortete ihm. Aschenbrenner lief zu einem Baum und ging erneut in Deckung. An einer anderen Stelle fiel etwas herunter. Er konnte nicht identifizieren was es war. Er musste aber damit rechnen, dass nicht nur ein Unbekannter in der Nähe war, obwohl Beate nur einen gesehen hatte. Er flüsterte in sein Handy: „Ich bin jetzt ganz dicht bei dir, gibt es etwas Neues?“

„Er steht hinter dem Gartenhaus und raucht erst mal eine.“

„Hast Du sonst noch jemand gesehen, ist er allein, oder gibt es womöglich noch einen zweiten Einbrecher?“

„Nein, ich glaube er ist allein.“ 

„Ich gehe jetzt zum Hintereingang, wenn er wieder auf das Haus zugeht, dann habe ich ihn. Die Glut ist zur Erde gefallen, ich glaube er kommt jetzt.“ Aschenbrenner war ein geübter Nahkämpfer. Sein Adrenalinspiegel stieg, fast freute er sich auf den Zweikampf. Der Mann bog um die Ecke, Aschenbrenner setzte zum Sprung an, stolperte über einen Blumenkübel und fiel krachend auf den Boden. Der Mann drehte sich um, lief in Richtung Straße und dann zum Mansholter Busch, Aschenbrenner hinter ihm her. „Warum läuft der Idiot nicht zu seinem Fahrrad?“, dachte Aschenbrenner, vermutlich weil er gesehen hat, dass ich schneller fliegen kann als er Rad fahren. Er verschwand im Mansholter Busch und Aschenbrenner folgte ihm. Aschenbrenner stoppte abrupt um das Knacken der Äste zu hören. Er war etwa 50 Meter vor ihm und stoppte auch. Aschenbrenner schlich vorsichtig weiter schob mit seinen Füßen die Zweige beiseite und kam langsam aber sicher vorwärts. Er lauschte auf jedes Geräusch. Selbst mitten in der Nacht ist es im Wald nicht still. „Goethe muss schon ziemlich schwerhörig gewesen sein, als er sein berühmtes Gedicht schrieb“, schoss es ihm in den Kopf. Dann lief der Mann vor ihm auf einmal wieder los. Aschenbrenner folgte ihm und nun drehte der Kerl das Spiel um. Er stoppte plötzlich und hörte auf Aschenbrenners Schritte. Aschenbrenner hielt augenblicklich an. Beide verhielten sich still. „Scheiße“, dachte er, wie sagt Staatsanwalt Drost immer:„Geh nicht ohne Pistole weg, ein Kommissar ist nie privat.“ Wieder startete der Mann einen Sprint. Aschenbrenner wusste jetzt, was er vorhatte, er lief auf die alte Försterhütte zu. Aschenbrenner kannte sie, weil er nach einem Waldlauf dort einmal auf eine Menschentraube um eine Bierbude herum gestoßen war. Er musste dort vorsichtig sein. Es gab genügend Plätze, wo sich sein Gegner hätte verstecken können, um ihn eins über die Rübe zu ziehen. Er sah einen Stein, nahm ihn vorsichtig auf und schmiss ihn gegen die Holzhütte. Augenblicklich löste sich der Mann von der Hütte und floh auf einem kleineren Waldweg wieder in Richtung Bokel. Aschenbrenner ahnte, was er vorhatte. Er wollte jetzt wohl doch zu seinem Fahrrad. Als sie wieder auf der Mansholter Straße waren hatte der Einbrecher etwa 50 Meter Vorsprung. Aschenbrenner lief los. Sein Gegner war allerdings auch kein schlechter Sprinter. Aschenbrenner holte auf. Er konnte ihn trotz seines eigenen Keuchens japsen hören. Noch 20 Meter bis zu seinem Fahrrad Aschenbrenner lief etwas langsamer um etwas Kraft zu sparen für den Zweikampf. Die Rechnung ging auf. Der Einbrecher riss sein Rad vom Zaun und wollte es anschieben um sich dann darauf zu schwingen. In der Ferne jaulte ein Martinshorn. Er flog mitsamt dem Rad vornüber und klatschte auf die Straße. Aschenbrenner sprang mit seinem gesamten Gewicht auf ihn drauf. Der wehrte sich heftig. Aschenbrenner griff in sein Haar und schlug seinen Kopf einmal auf das historische Pflaster der Mansholter Straße. Es war vorbei. Von hinten kam Beate angelaufen, die bis dahin hinter ihrem Fenster auf die Polizei gewartet hatte. Vor lauter Angst, ihrem Aschi könnte etwas passieren, hatte sie schließlich die 110 gewählt. Die Kollegen sprangen aus dem Auto ließen die Handschellen klicken und sahen erstaunt zu Aschenbrenner: „Hallo, so spät noch auf Verbrecherjagd?“ Aschenbrenner war völlig fertig. Er bekam kaum Luft. Sprechen konnte er erst recht nicht. Beate nahm seinen Kopf in ihre Hände und massierte seinen Rücken. „Dorfpolizist in Bokel müsste man sein“, lästerte der Streifenwagenbeamte mit Blick auf Aschenbrenner, „das würde ich mir auch gern gefallen lassen.“

„Passt auf, ihr bringt diesen Typen jetzt in eine Zelle auf dem Kommissariat. Versuchter Einbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt usw. usw. Ich knöpfe ihn mir morgen früh vor.“

Die beiden Beamten fuhren mit dem Verhafteten los. Auf der Mansholter Straße war inzwischen einiges an Zuschauern aufgelaufen. Viele hatten sich nur eben einen Mantel über das Nachthemd geworfen. „Es  ist vorbei. Keine Gefahr mehr, Sie können jetzt wieder ruhig schlafen gehen.“

„Wat moi, dat dat de Bullen gift“, hörte Aschenbrenner eine alte Frau sagen. Er schickte Beate ins Haus. „Ich komme gleich zu dir“, flüsterte er, „ich hole nur eben noch das Auto.“

„Bleibst Du bei mir?“ flüsterte Beate mit ganz viel Glück in der Stimme. „Ja, ich bleibe, ich bleibe bei dir, einer muss ja auf dich aufpassen.“

Am anderen Morgen lief Ralf Aschenbrenner einmal um das Haus und hinter den Fahrradschuppen. Er sammelte die Zigarettenkippe auf und blickte beim Hochkommen zwischen zwei Holzbalken dort lag eine Digitalkamera.

Eine kleine Kamera ausgerüstet mit einem 16fach Zoom und leerem Akku. Der Täter hatte sie vermutlich, verärgert über den Stromausfall, an die Seite gelegt. Später hatte er sie vergessen und dann hatte er keine Gelegenheit mehr. Aschenbrenner lief zu seinem Auto, steckte die Speicherkarte in seine eigene Digitalkamera und stieß ziemlich schnell auf ein Foto, das ihn in voller Mannespracht am Fenster stehend zeigte. Auch von Beate waren einige sehr detailgetreue Bilder zu sehen.

Aschenbrenner machte sich auf den Weg ins Kommissariat. Von unterwegs rief er Manu Borchers an und berichtete ihr von der Verhaftung in der letzten Nacht. Er ließ vorerst einige Details aus. Manu kannte Beate vom Hörensagen. Sie konnte sich denken, was Aschenbrenner dort am Laufen hatte, schließlich war es ihr Beruf, Geheimnisse zu ergründen.

Sie ließen sich die Personalien geben und gingen gemeinsam in den Vernehmungsraum. „Ich protestiere auf das allerschärfste. Sie haben überhaupt kein Recht mich hier festzuhalten. Mein Vergehen steht in keinem Verhältnis zu dieser Festsetzung.“

Manu Borchers fragte angriffslustig: „Herr Bartsch, was bitte ist denn Ihr Vergehen, ich war ja nicht dabei in der letzten Nacht?“

„Ich meinte Vergehen in Anführungszeichen. Ich verehre die Frau die dort wohnt. Ich würde sie auf der Stelle heiraten. Ich bin dort spazieren gegangen und habe sie zufällig gesehen.  Wenn dieser Möchtegernrambo nicht wie eine Furie auf mich gesprungen wäre, dann hätte ich mich wieder nach Hause begeben und alles wäre gut gewesen.“

„Frau Ailts hat mich angerufen, weil sie versucht haben in ihr Haus einzudringen. Sie waren nur nicht in der Lage die Dachrinne hochzusteigen“, sagte Aschenbrenner mit aggressivem Unterton.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich die Dachrinne hochsteigen wollte?“

„Frau Ailts hat Sie dabei beobachtet“

„Gut, ich wollte ihr näher sein. Ich wollte sie besser sehen können. Darum bin ich die Dachrinne hochgeklettert. Aber nie und nimmer wollte ich ihr irgendetwas tun. Ich mag diese Frau. Ich mag sie sehr. Sie hat so eine erotische Ausstrahlung.“

„Warum sind Sie dann abgehauen, als Sie auf mich getroffen sind?“

Ich konnte doch nicht wissen, wer Sie sind. Vielleicht ein eifersüchtiger Liebhaber oder ein abenteuerlustiger Nachbar, oder ein Einbrecher, der mich für einen Polizisten hält. Jetzt weiß ich, Sie sind ein eifersüchtiger Vorgarten-Rambo, der zufällig auch noch Polizist ist und mich vor lauter Angst verfolgt hat, weil er glaubte, ich würde ihm die Frau ausspannen wollen. Aschenbrenner riss sich zusammen, er wusste genau, dass er seinen aggressiven Regungen keinen Spielraum lassen durfte. „Das zahl ich ihm heim, diesem Arsch“, dachte er. „Das wird er mir büßen, von wegen eifersüchtiger Vorgarten-Rambo.“

 

Manu hatte Mühe nicht laut loszulachen. Mit etwas verzerrtem Gesicht entschuldigte sie sich und ging auf den Flur. Aschenbrenner rief einen von der Bereitschaft rein und ging ebenfalls aus dem Zimmer. In der Kaffeeküche trafen sie sich.

„Lass ihn laufen, Ralf. Wenn der so vor den Richter tritt, dann verpasst der ihm ein Bußgeld und es ist gut. Das ist nun wirklich nicht unser Bereich. Das können die netten Jungs in Wiefelstede auf der Wache auch erledigen.  Bei so einer Bagatelle glaubst Du ja wohl selbst nicht an Fluchtgefahr.“

Aschenbrenner ließ die Speicherkarte unerwähnt. Er wies die Bereitschaft an von Bartsch eine Speichelprobe zu nehmen, diese mit der Datenbank abzugleichen und ihn ansonsten erst einmal laufen zu lassen. Namen und Adresse hatten sie. Im Computer war nur abgespeichert, dass er mal wegen Drogenbesitzes zu einer Bewährungsstrafe verurteilt war und um alles andere sollten sich doch die Wiefelsteder kümmern.

Aschenbrenner zog sich in sein Büro zurück und steckte die Speicherkarte in seinen PC. Er sah sich die Fotos noch einmal in Ruhe an. „Du Arsch“, dachte Aschenbrenner, „von wegen Du magst Beate. Du bist ein perverser Spanner, Du gehörst in Therapie und zwar so, dass Du von der Therapie nicht weglaufen kannst. Vermutlich ziehst Du abends los, machst Deine Aufnahmen und holst Dir zu Hause die Bilder von der Speicherkarte runter …. Was ist, wenn er die Fotos gar nicht für sich macht, sondern auf irgendwelchen obskuren Seiten im Internet veröffentlicht?“ Aschenbrenners Magen grummelte, er sah sich als Nacktmodell auf pornografischen Seiten. Ein Betthupferl für Voyeure, die sich auf entsprechenden Websites an seinem und Beates Anblick ergötzten.

Aschenbrenner war überhaupt nicht wohl. Dann brach der Polizist in ihm wieder durch. „Ich muss auch an die anderen beiden Frauen denken. Ich darf dieses Material nicht einfach unterschlagen, es könnte unter Umständen ziemlich problematisch für mich werden. Ich muss dringend zu Marc. Marc ist Fachmann für alles was mit dem PC zu tun hat. Kann ich die Fotos von mir löschen und den Rest als Beweismittel einführen, ohne dass ich dumm dastehe?“

Marc nahm sich die Speicherkarte und sagte: „Ich kann die Fotos sichern, die Speicherkarte so formatieren, dass sie von Spuren frei ist und dann die Bilder wieder darauf kopieren, die Du da darauf haben willst. Ein Fachmann wird allerdings sofort merken, dass an der Karte manipuliert worden ist, er wird aber nicht nachvollziehen können, wer diese Karte manipuliert hat.“

„Ich muss nachdenken“,  sagte Aschenbrenner.

„Ich weiß nicht was Du hast“, sagte Marc, „Du machst doch eine gute Figur, Du bist Single, was gibt es, was Du nicht tun darfst?“

„Nichts“, sagte Aschenbrenner, „aber ich will mich nicht zum Gespött meiner Kollegen machen.“

„Du hast doch nur Angst, dass dir noch mehr Frauen nachlaufen.“ Aschenbrenner ging zur Toilette, er musste zwar nicht, brauchte aber einen Moment Ruhe. Als er zurück- kam sagte Marc: „Sieh dir das an, ich habe einige der gelöschten Bilder von der Speicherkarte wieder hergestellt. Lauter Bilder von nackten Frauen in verschiedenen Situationen.  Aschenbrenner sah sich die Bilder an. Ihm kam das Bild einer weiteren Frau bekannt vor. Sie lag auf dem Boden mit gefesselten Händen. Er wusste, dass er sie schon einmal gesehen hatte, wusste aber nicht wo. Er zermarterte sein Gehirn, ihm viel nichts ein. Er ließ sich von Marc die rekonstruierten Bilder auf eine DVD brennen und fuhr nach Hause.

„Wo habe ich diese Frau schon einmal gesehen?“

Er zeigte Manu das Bild und erzählte ihr von der Digitalkamera, die er gefunden hatte.

Manu erinnerte sich an ein Vergewaltigungsopfer. „Die Frau ist genauso in dieser Position gefunden worden.“

Mit Blaulicht rasten sie in Richtung Metjendorf.  Die Haustür des Apartmenthauses stand offen. Aschenbrenner zog seine Pistole und klopfte an die Wohnungstür. Keine Reaktion. Aschenbrenner klopfte  noch einmal, diesmal energischer, wieder keine Reaktion. Manu, Spezialistin für das Öffnen von Türen und Schlössern, öffnete die Tür. Da es sich nur um ein 1-Zimmer-Appartment handelte, ist schnell zu sehen, dass niemand zu Hause ist. Auf dem Tisch stand ein Laptop. Er war nur auf Energiesparmodus geschaltet und auch nicht Passwortgeschützt. Manu fuhr den Rechner hoch, um sich einen Überblick über die Dateien zu verschaffen. Aschenbrenner schlug sich mit der Hand vor den Kopf. Vielleicht ist er losgefahren, um seine Kamera zu holen. Er rief Beate an und sagte: „Bleib in Deiner Wohnung schließ Türen und Fenster zu, wir sind in 10 Minuten bei dir. Manu nahm den Laptop unter den Arm. Sie stürzten zum Auto. Aschenbrenner  setzt das Blaulicht auf das Autodach und fuhr ohne jegliche Rücksichtnahme über Heidkamp in Richtung Neuenkruge. Er bog in die Mansholter Straße ein und hoffte, dass keiner mit seinem neuen Trecker aus der Hofauffahrt fuhr.

„Fahr ruhig etwas langsamer. Wir wissen ja nicht mal, ob er gerade jetzt auf der Suche nach seiner Kamera ist. Deine Beate weiß ja um was es geht und hat Deine Handynummer.“ Aschenbrenner nahm den Fuß etwas vom Gas. Manu hatte Recht. Er hatte mehr Angst um Beate, als er sich das zugestehen wollte. Sie fuhren vor die Tür von Beates Haus, rissen die Autotüren auf und stürmten in den Garten. Niemand war zu sehen. Aschenbrenner rief zu Beate, die am Fenster stand: “Alles o. k. bei dir?“

Beate rief zurück: „Er war da, ich habe ihn gesehen.“ Aschenbrenner lief noch einmal zu der Holzhütte und sah sich um. „Nicht noch einmal eine Hetzjagd zu Fuß durch den Wald“, dachte er. Manu bedeutete ihm ruhig zu sein. Das einzige Versteck befindet  sich auf dem kleinen Boden über der Gartenhütte, eine Leiter stand hinter der Hütte an das Fenster gelehnt. Manu nahm einen Blumentopf und schmiss ihn mit Schwung auf den kleinen Holzboden. Durch den Schreck schmiss sich der Täter zur Seite und verursachte ein Geräusch, das eindeutig nicht durch den Blumentopf entstanden sein konnte. „Kommen Sie runter, hier spricht die Polizei. Versuchen Sie nicht zu fliehen, wir machen von der Schusswaffe Gebrauch.“ Andre Bartsch streckte seinen Kopf aus der Luke und ließ sich dann mit den Beinen zuerst herab. Geistesgegenwärtig stellte Manu die große grüne Wassertonne darunter, so dass der Täter sich direkt in die Tonne hinab ließ und knietief im Wasser stand. Aschenbrenner hielt ihm seine Pistole an den Kopf und Manu Borchers ließ die Handschellen hinter seinem Rücken zuschnappen.

„Was soll der Scheiß, lassen Sie mich los. Sie haben alle meine Daten. Ich will nach Hause.“ „Wir haben Ihre Digitalkamera und wir haben Ihren Laptop. Bis Sie wieder nach Hause kommen, das dauert wohl noch ein paar Jahre. Auf Vergewaltigung, Einbruch, Belästigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt stehen mindestens 7 Jahre Knast.“ Bartsch wurde in den Polizeiwagen verfrachtet und die Beamten fuhren mit ihm los. Aschenbrenner verabschiedete sich von Beate und stieg ins Auto.

„Warum hast Du mir nie von ihr erzählt?“, sagte Manu.

„Es ist nicht so wie Du denkst.“

Manu war zwar nicht nach Lachen zumute, musste aber ein wenig grinsen, auch wenn der Witz einen ziemlich langen Bart hatte.

„Es ist was ganz anderes. Wenn sie mal Schluss machen würde, es wäre schade, sehr schade. Aber wenn Du mit mir nicht mehr … Ich mag gar nicht daran denken.“  Aschenbrenners Stimme klang ernster, als er das beabsichtigt hatte.

„Ich weiß, ich bin ein Kumpeltyp, eine Frau zum Pferdestehlen,  geritten wird wo anders.“ Sie lachten beide. Aschenbrenner bog von der Straße ab und parkte vor Bremers Bauerndiele. „Ich hab Durst auf eins von den herrlichen schwarzen Bieren die man hier serviert bekommt und noch was, lass uns nicht mehr über Beate reden, das ist kein Thema für uns.“ 

Am Donnerstag fuhr Aschenbrenner wieder nach Bokel.  „Hallo“, sagte er, „ich habe letzten Donnerstag vergessen meinen Dörgeneiten auszutrinken, man soll ja nichts verkommen lassen.“

„Genau“, sagte Bernd, griff in den Schrank und holte den eingeschenkten Schnaps hervor. „Hier“ sagte er, „ich habe ihn für dich aufgehoben. Dein Deckel liegt auf dem Glas.“

„Mach den anderen auch noch einen“, sagte Aschenbrenner. Es war so, als wäre die Zeit stehen geblieben. An der Theke saßen die vier Bässe des MGV Frohsinn. Sie saßen in der gleichen Reihenfolge und hatten vermutlich wieder einen sehr schweren Übungsabend hinter sich. „Er ist ein wackerer Kumpan …“

„Sag lieber schnell prost!“, sagte Bernd, „bevor Du wieder bei einer Frau Notdienst verrichten musst.“

 

 

Erpels Reich                                                                                           Eckard Klages

         

 

Der Weihnachtsbraten ruhte schwer auf seinen Rippen. Noch immer lagen im Haus weiträumig verteilt unglaubliche Mengen an Süßigkeiten. Der Einkaufszettel für das Silvesterfondue grinste schon verführerisch von der Magnettafel in der Küche und bereitete dem Betrachter erneut Appetit auf Lamm, Rind, Geflügel und vielerlei exotische Soßen. Paul brauchte jetzt dringend Bewegung und frische Luft, bevor die genussvolle Völlerei in die nächste Runde ging. 

Er möchte sich fit halten. So ein Leben wie jetzt immer weiterführen. Jung bleiben, gut aussehen, durchtrainiert sein. Eine nette Frau, einige heiße Geliebte, möglichst so jung, wie er sich fühlte.

Kinder stören doch jetzt nur, dachte er, die kann ich mir auch noch in 10 Jahren anschaffen, wenn überhaupt. 

Paul Siemers hatte es geschafft. Er war Leiter einer regionalen Versicherungsgruppe, hatte damit einen Job, den er mit viel Spaß ausübte und der als lukrative Einkommens- quelle nicht zu verachten war. Vor allem aber liebte er Tagungen, Tagungen, auf denen er seine Kolleginnen und Kollegen aus der gesamten Region traf und für deren Weiterbildung er verantwortlich war. Tagsüber trainierten sie für den Erfolg, der Feierabend war den diversen Möglichkeiten der Entspannung gewidmet. Das Ambiente, in dem solche Tagungen stattfanden, trug dazu bei, in einer eigenen, vom Alltag abgehobenen Welt zu leben. Sie waren eine Familie, eine Gemeinschaft, nett und vor allem erfolgreich. Warum soll da ein wenig Spaß nicht erlaubt sein? Klar, es gab Konkurrenz unter- einander, das gehörte zum Geschäft. Wer für Stress und Konkurrenzkampf nicht geeignet war, der war falsch in diesem Metier.

Doch an Arbeit dachte Paul jetzt nicht, er wollte das tolle Wetter ausnutzen und Schlittschuhlaufen gehen. Die Winter, in denen das Zwischenahner Meer zufror, waren seltener geworden, das Tauwetter setzte  immer schneller ein und verhinderte den ausdauernden Spaß auf dem Eis meist schon nach kurzer Zeit.  

Beim Brötchen holen hatte er gesehen, dass auf dem Meer schon mächtig viel Betrieb war. Er war ein fantastischer Schlittschuhläufer, immer auf dem Eis, wenn es irgendwie möglich war. Zusätzlich waren Eislaufhallen sein  Revier, auf der Suche nach neuen Gespielinnen wurde er hier besonders schnell fündig.

Paul ging in den Keller, zog seinen Winterdress an, holte seine Schlittschuhe aus dem Schrank und ging zu seiner Frau Maike, um sich zu verabschieden. 

»Willst du Schlittschuhlaufen?«

»Ja, ich dachte, ich drehe mal ein paar Runden unter dem Motto: Weg mit dem Speck!«

»Wäre es, äh, wäre es sehr schlimm für dich, wenn ich mitkäme?«

Paul war darauf trainiert in solchen Momenten nicht zu zeigen, was er dachte. Regelmäßige Übungen in den vielen Seminaren zur Verbesserung von Kommunikation und zur Optimierung von Verkaufsstrategien, hatten aus ihm einen professionellen Kommunikationsstrategen werden lassen. Immer freundlich und nett, die eigenen Ziele aber stets vor den Augen. 

In seinem Kopf sabbelten trotz allem Lächeln die inneren Stimmen kreuz und quer durcheinander. Hinter seinem freundlichen Lächeln tobte ein innerer Kampf unterschiedlichster Gefühle und Gedanken.

Im diesem Moment setzte sich sein innerer Schweinehund durch: »Ach du Scheiße, was willst du mit deiner Alten auf dem Eis? Willst du dir wirklich das Gequatsche über ihren Mädelsklub anhören? Die glauben doch von sich, sie wären erotische Volltreffer, nur weil sie einmal für Andrea zum 40. Geburtstag eine Dildoparty organisiert haben.«

Aus Pauls Mund klang ein ganz anderer Ton: »Aber mein Hase, ich freu mich doch riesig, wenn wir mal was gemeinsam machen können. Ich habe gar nicht gewagt zu fragen, ob du Zeit und Lust hast. Du hast ständig so viel zu tun und mittags ruft dann doch immer deine Mutti an. Wenn du darauf heute mal verzichten kannst, ich warte gern auf dich, aber nicht, dass die Mutti dann enttäuscht ist.«

»Ich rufe sie später an und jetzt beeile ich mich.«

In, für ihre Verhältnisse rasender Geschwindigkeit, hatte sie die Küche aufgeräumt, sich umgezogen, ihre Schlittschuhe aus dem Keller geholt, Rucksack, Handschuhe, Schal, Stirnband, Handy, wichtige Schminksachen, Sonnencreme, eine kleine Flasche Wasser und ein paar gesunde Kekse eingepackt. Kekse von der Art, dass sie bei Paul einen Würgereiz hervorriefen, wenn er sie nur sah. Sie waren so trocken, dass die Hersteller aus der Naturkostindustrie mit gutem Gewissen die Haltbarkeitsgarantie bis 2027 datiert hatten. Sie hatte leichte Probleme mit der Verdauung und war fest davon überzeugt, dass nur diese Kekse ihr Problem lösen könnten.

»Ich muss noch eben Pipi, dann geht es aber auch sofort los. Du könntest das Auto schon aus der Garage fahren.« 

Sie parkten ihren Wagen beim Fährhaus in Dreibergen und liefen mit den Schlittschuhen in der Hand zum Bootsanleger.

»Hallo, na, schon auf dem Weg nach Hause?«

»Tja, wir wollen los, Mutti wartet mit dem Essen.«

»Sehr gut, dann mal ab in die Villa.«

Paul kannte die drei Männer flüchtig, aber ein kurzer Schnack, ein paar Sympathiepunkte einfahren und vor allem immer im Training bleiben. Keine Gelegenheit auslassen, um Menschen für sich zu gewinnen, präsent sein, immer nah dran am Volk. »Vorurteile bringen im Umgang mit Kunden keine Vorteile«, sagte er immer. Jeder hat ein Recht unsere Produkte zu kaufen, da sind wir sozial. Wer kauft, ist Kunde. Wer Kunde ist, der ist König. 

Auf dem Bootsanleger in Dreibergen zog Paul seine Straßenschuhe aus und streifte seine Ice-Skates über die Füße. Ein paar herausragende Hochleistungsgeräte für den überaus anspruchsvollen Eisläufer, die er trotzdem liebevoll Schlittschuhe nannte. So wie er zu seiner Harley, nach Anerkennung heischend, lässig Moped sagte.

 

Er ließ seinen Blick über das Zwischenahner Meer schweifen. Auf der anderen Uferseite war ebenfalls viel Betrieb. Mobile Händler nutzten die Zeit, um die restlichen Bratwürste und den restlichen Glühwein von den Weihnachtsmärkten schnell unter die Leute zu bringen. Auf jeden Fall ein willkommenes Zusatzgeschäft. Der Blick war herrlich, die Sonne verwandelte die Landschaft mit dem sich auflösenden Hochnebel in ein strahlendes, weißes Gemälde. 

»Lass dir ruhig Zeit«, sagte Paul, fuhr ein Stück vom Uferrand weg und zeigte ein paar seiner besten Tricks: Achten laufen, vorwärts – rückwärts, ein hoher Sprung von einem Bein auf das andere, eine kleine Pirouette und zum Abschluss eine Ellipse. Sein Körper schwebte waagerecht über dem Eis, gehalten von seinem kerzengerade durchgestreckten Bein. Einige Spaziergänger vergaßen das Spazieren und schauten tief beeindruckt herüber. 

 

»Na, Hasi, können wir jetzt los? Ich bin gut drauf heute, ich meine auf dem Eis, fahr du gern in deinem Tempo, ich lauf mal ein wenig vor und komme dann zu dir zurück. Wie immer! Ich komme ja immer wieder zu dir zurück.«

Sein professionelles Grinsen war so perfekt, dass Maike ihn freudig anlächelte, obwohl sie ahnte, dass es nur nette Worte ohne wirkliches Gefühl waren. Es tat ihr trotzdem gut. 

Wieder drehte er ein paar lockere Runden und schaute dabei verstohlen zum Ufer nach einem Publikum, welches seine Künste bewunderte. Zwei Frauen, ihre Männer unterhielten sich miteinander über die Bundesliga, sahen fasziniert zu ihm herüber. Paul legte für die beiden eine Extra-Runde hin, sah sie dabei aus der Ferne an und lief dann weiter.

Jetzt drängte sich sein innerer Bluthund in die erste Reihe: »Warum kann die blöde Kuh nicht zu Hause bleiben. Es gibt so viele tolle Dinge, die sie im Haus machen kann, wenn du weg bist. Sie kann mit ihren Mädels telefonieren, bis der Arzt kommt. Du musst dir ihr Gequatsche nicht immer wieder von vorn anhören. Schlittschuhlaufen kann sie auch nicht. Wenn keiner einen Sturz baut, sie schafft das in schöner Regelmäßigkeit. Sie fliegt auf das Eis, stöhnt herum und du musst sie wieder trösten und womöglich noch zum Arzt bringen. Was könntest du für ein Leben haben? Keine feste Beziehung, kein Stress, kein Gezicke, keine Vorwürfe, keine Spaßbremse. Keiner von ihren seltsamen, schwer zu deutenden Blicken mehr.« 

 

Nie hatte sie ihm etwas vorgeworfen, kein böses Wort kam über ihre Lippen. Manchmal ahnte er, wenn sie ihm zwar freundlich begegnete, aber körperlich ein wenig distanziert war, dass sie nicht alles gut fand, was zwischen ihnen lief. Den Gedanken, dass sie ihn nicht mehr uneingeschränkt bewunderte, hielt andererseits seine Eitelkeit nicht allzu lange aus. Er beendete die Situation, indem er Sex mit ihr hatte. Maike schlief bei solchen Gelegenheiten ohne zu murren mit ihm. Danach schien zwischen ihnen wieder alles in Ordnung zu sein. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn mit ihrer körperlichen Distanz nur reizen wollte. War es ihre Art Nähe zu provozieren? Letztlich war es Paul egal. Er hatte nie viele Gedanken an Maikes Befindlichkeiten verschwendet.  Wenn es sexuell zu Hause nicht so befriedigend lief, außer Haus lief es immer. Frauen, die einen attraktiven und charmanten Kerl wie ihn nicht von der Bettkante stießen, gab es genug. Und für solche Frauen hatte er den untrüglichen Blick.  

Weit war er vorausgelaufen, sah sich nicht um, genoss den Wind, den er im Gesicht spürte. Seine Bewegungen wurden immer harmonischer, er fühlte sich eins mit der Natur. Die gleichmäßigen Geräusche seiner Schlittschuhkufen ergaben einen faszinierend, beruhigenden Klang. Pauls Bewegungen hatten etwas Meditatives, in der Art, wie buddhistische Mönche ihre Dschunken über das Wasser ruderten, ruhige, gleichmäßige und harmonische Bewegungen in Perfektion. Die Jachthäfen und der Segelclub kamen immer näher, auf dieser Seite des Meeres war nur wenig los. Er genoss die Winterlandschaft in vollen Zügen. 

Paul fuhr eine Acht und sah Maike in der Ferne als kleine Figur auf dem Eis. Erkennbar an ihrem pinkfarbenen Stirnband, was sie sich einmal gekauft hatte, weil eine junge Kollegin von ihm, die sie mit so einem Stirnband einmal zufällig in der Stadt getroffen hatten, ihn überaus herzlich umarmt hatte. Maikes Idee, dass seine Sympathie für die stürmische Kollegin etwas mit dem Stirnband zu tun haben könnte, lockte ihm nur ein müdes Grinsen ins Gesicht.

Sie kam hinter ihm her, statt mit der Masse der Schlittschuhläufer direkt auf den Budenzauber zuzufahren. Ich werde sie dorthin begleiten, dachte er, um ihr an eine der Buden eine längere Pause zu gönnen.

So fuhr er in ihre Richtung zurück, fand seinen Rhythmus wieder, atmete gleichmäßig und ruhig. Ihm wurde warm, er öffnete seine Jacke und genoss den Wind in seinem Gesicht. Maike war jetzt wieder deutlicher vor dem Panorama der winterlichen Landschaft zu erkennen. Sie mühte sich auf ihren Schlittschuhen, hatte gerade eine künstliche offene Wasserstelle für Enten, Möwen und andere gefiederte Eisläufer in Höhe des alten Bundeswehrkrankenhauses umfahren. Er lief auf sie zu. Wieder sprach sein innerer Bluthund, jetzt aber sehr eindringlich: »Zwischen ihr und der Wasserstelle liegen höchstens 20 Meter. In der direkten Nähe gibt es keine Menschenseele. Sehr geschickt ist sie auf ihren Schlittschuhen nicht. Fahr auf sie zu, öffne die Arme als Zeichen für eine baldige Umarmung, dann gibst du ihr einen Stoß, sodass sie einige Meter rückwärts auf ihren Kufen rutschend dem Wasserloch näherkommt und mit voller Wucht haltlos in der Wasserstelle versinkt. Vermutlich wird das Eis an einer dünneren Stelle schon vorher einbrechen. Du wirst erschrocken aufschreien, so tun, als würdest du ihr helfen, dabei aber zusehen, wie sie versucht, aus dem Wasserloch herauszuklettern, ohne zu ahnen, dass sie keine Chance hat. Dann wirst du ihr zurufen, dass du vom Anleger das Rettungsgeschirr holst. Du fährst schnell, so wie immer. Rufst von unterwegs den Notdienst an. Dann tust du so, als könntest du den Rettungsring nicht aus seiner Halterung bekommen. Endlich läufst du mit der Leiter und dem Rettungsring zurück und kannst davon ausgehen, dass sie den Kampf gegen das eisige Wasser endgültig verloren hat.«

Paul fuhr wie in Trance, er überließ dem Bluthund vollständig die Regie über sein handeln. Er legte noch etwas Tempo zu. Sie stand und wartete auf ihn, sah ihn auf sich zukommen, sah, dass er die Arme geöffnet hielt, schneller wurde und nicht abbremste, begriff, was er vorhatte, ließ sich kurz, bevor er auf sie traf, auf das Eis fallen. Sie schrie auf, als er über sie stolperte und sie mit seinen Ice-Skatern verletzte. Sie sah, wie er in einem hohen Bogen stürzte, mit dem Kopf auf das Eis aufschlug und noch ein paar Meter weiterrutschte. Sah, wie ein größeres Stück Eis brach und mit ihm zusammen im Wasser verschwand. Paul tauchte sehr langsam wieder auf, war benommen, aus einer Wunde am Kopf lief das Blut sein Gesicht hinunter. Er griff nach der Eiskante und brach ein Stück ab. Er war zu benommen, um den Versuch zu starten, sich auf das Eis zu ziehen. Langsam dämmerte es in ihm, dass er keine Chance hatte, allein aus dem Wasser zu kommen. 

»Die Leiter, hol die Leiter . . .«, rief er mit letzter Kraft. 

Maike japste nach Luft, konnte nicht glauben, was ihr gerade passiert war. Sie starrte auf Paul. In ihrem Blick war das Entsetzen gepaart mit dem Schmerz ihrer ihrer Hüfte. Sie suchte nach ihrem Handy, wollte den Rettungsdienst anrufen. Paul rief verzweifelt: »Es ist scheiße kalt! Tu doch was!« Sie zögerte, dachte daran, dass es nur gerecht sei, dass er jetzt in diesem Wasserloch lag.

»Maike . . .« Von der Wunde auf seinem Kopf lief weiter Blut in das Wasser. Sein schmerzverzerrtes Gesicht sah aus wie eine Maske aus einem Horrorfilm. Er schnappte mühsam nach Luft.

 »Ich …, du …, ich habe immer alles für dich getan. Alles! Ich habe sogar deine unendlich vielen Weibergeschichten ertragen. Ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr.« 

»Hilf mir, ich …« Seine Stimme war kaum noch zu verstehen. Ein Schwall Wasser schwappte in seinen Mund. Er spuckte und versuchte mühsam sich über Wasser zu halten. »Hilfe«, schrie er mit letzter Kraft. Sein Anzug war voll Wasser gelaufen, zog ihn unter das Wasser. Seine Muskeln waren wie gelähmt.

»Es ist aus«, schrie sie. »Ich will nicht mehr, sieh zu, wie du alleine klarkommst.« 

»Dein Han …«, röchelte er.

Sie sah nicht mehr hin. Ein weiterer Schwall Wasser ergoss sich in seinen Mund.«

Langsam kippte sein Kopf unter die Wasseroberfläche. Luftblasen stiegen auf.

Maike weinte hysterisch, war traurig. »Du Arschloch, du bist so ein Arschloch!« Ihre ganze Wut, ihre ganze Verzweiflung lag in diesem Schrei. »Du hast alles kaputt gemacht!«  

Ihr wurde klar, dass sie Witwe sein würde, allein, ohne diesen Mann, der immer so gut ausgesehen hatte, der so charmant sein konnte, in den sie einmal so verliebt war. 

Aus Richtung der DLRG-Station kamen Leute auf sie zu. Sie lag immer noch auf dem Eis. Blut lief aus einer Platzwunde von der Stirn auf ihre Wangen und vermischte sich mit ihren Tränen. Ihr Bein schmerzte, an aufstehen war nicht zu denken. Sie legte ihren Kopf auf das Eis und sah in den herrlich blauen Himmel über dem Zwischenahner Meer.

Paul war in dem blutigroten, eisigen Wasser verschwunden. Ein Zipfel seiner Jacke lugte noch aus dem Wasser. Nur noch wenige Luftblasen stiegen auf, er sank immer tiefer. Die leichte Strömung drückte seinen Körper langsam unter das Eis.

 

 

 

 

 

 Luderplatz                                                         Eckard Klages

 

Stille und Dunkelheit umgaben ihn auf dem langen Weg durch das Fintlandsmoor. Es dämmerte langsam, die Sonne war noch nicht zu sehen. Vogelstimmen drangen von allen Seiten in/an sein Ohr. Er erschrak, als ein Reh direkt vor ihm aufsprang und sich in die Büsche schlug. So schnell hätte er sein Jagdgewehr nicht von der Schulter bekommen, um hier einen sicheren Schuss abzusetzen. Er mochte es nicht, wenn Tiere leiden mussten, lieber verzichtete er auf einen Treffer. Er liebte die Bewohner des Waldes, aber sie vermehren sich unkontrolliert und schädigten damit ihren eigenen Lebensbereich, deshalb sah er es als seine Pflicht an, regulierend einzugreifen. Die Schonzeiten waren jedem Jäger bekannt, keiner erschoss eine Ricke oder eine Sau, solange die Jungtiere klein waren. Robert hatte immer ein seltsames Gefühl, wenn er so früh am Morgen durch das Moor lief. Auch, wenn es für einen Jäger die beste Tageszeit war und er sich dann alleine wähnte. Er bog jetzt nach links vom Weg ab und erschrak. Kleine Moorlichter tanzten, bis zu dem von ihm vor längerer Zeit angelegten Luderplatz. Er verharrte auf dem Moorpadd und beobachtete, was im Moor geschah. 

 

Der Sage nach hatte eine Magd im »Rasteder Busch« ihr frischgeborenes Kind vergraben. Seither tanzten die Moorlichter um den im Moor vergrabenen Leichnam. Auch im Fintlandsmoor gab es solche Stellen, wenn auch niemand wusste, wann und ob dort je ein Mensch vergraben worden war. Er ließ sich Zeit, bis die Lichter nicht meht vor seinen Augen tanzten, näherte sich seinem Luderplatz und durchsuchte ihn. Robert fand keine Reste seines letzten Besuches mehr,griff sich seinen Klappspaten, schaufelte ein wenig Erde beiseite und holte aus seinem Rucksack nicht zum Verzehr geeignete Reste eines Rehkitzes, das er zwei Tage zuvor an einem anderen Ort geschossen hatte. Inzwischen war das Reh ausgenommen und das Fleisch eingefroren. Teile davon lagerten in Vakuumbeuteln im Kühlschrank. Nur beim Filet verlor er die Beherrschung. Kurz in Butter angebraten, mit einer Prise Salz und  etwas Piment d`Espelette gewürzt, das wunderbare Wildaroma kam so hervorragend zur Entfaltung und mit einem Glas Wein verspeiste er diesen absoluten Hochgenuss.

 

Robert grub die Rehreste leicht ein. In die Mitte des Luderplatzes legte er ein paar Kilogramm zerhacktes Fleisch von Susanne dazu. Anschließend streute er etwas Laub darüber und stapfte durch das Moor zurück zu seinem Auto. Auf dem Weg sah er sich noch einmal um und wieder begleiteten ihn tanzende Moorlichter. Schnell setzte er sich ins Auto und fuhr den Weg zurück nach Hause. Langsam beruhigte sich sein Kreislauf. Er zog die Uniform an und fuhr zur Arbeit.

 

In der kleinen Zunft der Hobbyjäger war Robert sehr beliebt. Sie mochten den ruhigen und humorvollen Mann in ihrer Mitte, der immer so schöne Anekdoten aus seinem Dienst als Polizist erzählen konnte. Wenn ihm nichts Interessantes passiert war, erzählte er gern Geschichten aus anderen Dienststellen, die er dann und wann von Kollegen gehört hatte. Er drehte es so hin, dass seine Zuhörer der festen Überzeugung waren, er hätte das alles selbst erlebt. Sie trafen sich einmal im Monat in ihrer Stammkneipe, tauschten Erlebnisse und Erfahrungen aus, erzählten sich Jägerlatein und diskutierten über Abschussquoten für den Wolf. Die zur Plage werdenden Wildschweinrudel, die sich durch die ungeheuer angewachsenen Maisfeldflächen in rasender Geschwindigkeit vermehrten, wurden von Monat zu Monat neu besprochen. Vielmehr Wildschweine als bisher konnten sie nicht erlegen. Noch mehr Wildschweinfleisch ließ sich nicht verwerten. Robert fühlte sich wohl in diesem Kreis und blieb meistens bis zum Schluss. Um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, fuhr er anschließend, häufig gut angeheitert, mit dem Taxi nach Hause. Robert war vernünftig. Nie würde er sich angetrunken hinter ein Steuer setzen. Das war er seinem Beruf schuldig.

»Sag mal, hast du mal was von Susanne gehört?«, fragte ihn Herbert, sein Jagdkumpel aus Linswege. Robert und Herbert waren die letzten Gäste, die in der Kneipe saßen.

»Ne, nichts. Sie hat mir den Abschiedsbrief auf den Tisch gelegt und ist mit zwei Koffern und ihrem Rucksack verschwunden. Das Auto hat sie hiergelassen, es gehörte ihr ja nicht, es ist auf meinen Namen zugelassen. Sie ist vermutlich verschwunden, als ich zum Nachtdienst musste. Ich war an dem Tag sehr viel früher zu Hause als üblich, da war sie schon weg. Ich vermute, irgendeiner ihrer zahllosen Liebhaber hat sie abgeholt. Ich bin nicht mehr traurig. Sie hat mich jahrelang beschissen und betrogen, was bei meinen Dienstzeiten ja nicht so schwierig war. Sie hat wohl jemanden kennengelernt, der in Spanien auf dem Festland oder auf einer der Insel ein deutsches Restaurant hat. Ich vermute, da lebt sie jetzt und arbeitet dort als Mädchen für alles.« Er zeigte ihm dazu eine obszöne Geste.

»Im letzten Jahr hat sie einen Intensivkurs Spanisch an der Volkshochschule belegt. Sie wollte den `Kopp am Denken halten´,  hat sie gesagt. Und sie wollte gern mal mit mir nach Spanien in den Urlaub. Bei uns war Urlaubssperre, so ist sie schließlich allein gefahren und hat eine Spanienrundreise mit dem Bus gebucht. Soll sie meinetwegen glücklich werden, wo immer auch sie sich rumtreibt, das verdammte Luder.«

Sie tranken einen letzten Schlenderschluck, während der Taxifahrer schon in der Tür stand und ließen sich dann nach Hause bringen.

 

Robert ging gern früh ins Bett, um vor dem Dienst auf die Jagd gehen zu können. Gerade hatte er großes Jagdglück gehabt. Auf dem Weg zu seinem Hochsitz stand ein Reh aus dem Gras auf und blickte sich um. Robert entsicherte vorsichtig sein Gewehr, zielte in aller Ruhe und drückte ab, als er sicher war, es mit einem Schuss töten zu können. Das Tier fiel auf der Stelle um und lag wieder dort in der Graskuhle, in der es vermutlich die Nacht verbracht hatte. Schnell zog er seine Beute zum Auto und packte es in die dafür vorgesehene Kühlbox. Zu Hause trug er die Box in seinen Hobbyraum, eine gut ausgerüstete kleine Schlachterei. Alles gefliest, zwei Schlachterhaken an der Wand, zwei große Tiefkühltruhen, professionelle Messersets, ein Schneidetisch und mehrere Kühlboxen, um das Fleisch zu seinen Abnehmern zu bringen, oder um die Reste auf dem Luderplatz zu entsorgen. Robert liebte diesen Anbau. Seine Frau hatte ihn nie betreten, sie ekelte sich davor, tote Tiere zu betrachten, vor allem, wenn sie gerade an der Wand hingen, um ausgenommen zu werden. An der Stirnseite standen einige Maschinen, die er einem Schlachtermeister abgekauft hatte, der seinen Betrieb aus Altersgründen aufgeben musste. So war Robert günstig an einen professionellen Fleischwolf, eine Wurstmaschine und an eine Knochenmühle gelangt. Er zog das Reh mit den Hinterläufen an der Wand hoch, trennte den Bauchraum auf und ließ die Eingeweide in eine große Kühlbox fallen. Seine scharfen Messer leisteten ihm dabei gute Dienste. Heute Abend würde er diese Kühlbox an eine Stelle bringen, die ihm als Wildschweinplatz bekannt war. Eine Horde hielt sich in diesem Maisfeld auf und hatte häufig schon die Futterstelle erschnüffelt, bevor er wieder im Auto saß. Schon am anderen Morgen war auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. Die restlichen Spuren beseitigten Krähen, Würmer und Käfer.

 

Er zog dem Tier das Fell ab, eine etwas anstrengende Arbeit, bei der seine scharfen Messer wieder zum Einsatz kamen. Der Rest war schnell erledigt. Die besten Stücke wurden filetiert, Fleischstücke zu Hackfleisch verarbeitet, die Knochen zersägt und für den Luderplatz vorbereitet. Das Fell, die Knochen und den Schädel ließ er einmal durch seine Knochenmühle laufen, da die Bewohner des Waldes an dem Fell allein kein großes Interesse hatten.

 

Robert legte einige Fleischstücke des zerlegten Tieres in eine der beiden Tiefkühltruhen und musste plötzlich an Susanne denken. Wut kam in ihm auf, auf diese Frau, die ihn so heimtückisch betrogen hatte. Er war doch mit seiner Ehe so zufrieden gewesen. Hatte in der Wildschlachterei seinen persönlichen Rückzugsraum, konnte schalten und walten, wie er wollte. Seine Arbeit auf der Dienstelle gefiel ihm gut, mit den Kolleginnen und Kollegen kam er prima aus. Die Jagd und seine Jagdkumpane sorgten für zusätzliche Unterhaltung. Susanne führte den Haushalt, arbeitete tagsüber in einem Krankenhauscafé und sah gerne Serien im Fernsehen. Sie ging häufiger mit ihren Freundinnen ins Kino oder zu diversen Kleinkunstveranstaltungen, die in der Region gerade angeboten wurden.

Robert hatte seine Frau auf seine Weise geliebt. Sie bekam alles, was sie für sich und den Haushalt benötigte, um Geld hatten sie sich nie gestritten, er vertraute ihr. Wenn sie sich sahen, wenn sie zusammen aßen, unterhielten sie sich nett. Erzählten sich, was sie so erlebt hatten und kamen gut miteinander aus. Sie schliefen seit längerer Zeit getrennt, weil Robert häufiger sehr früh aufstand, um zur Jagd zu gehen. Susanne konnte nur schwer wieder einschlafen, wenn sie einmal wach war. Sein Beruf brachte es mit sich, dass er dienstlich häufig lange unterwegs war. Es kam ebenfalls vor, dass er mitten in der Nacht ins Polizeipräsidium fahren musste.

 

Der Alarmknopf an seinem Diensthandy signalisierte ihm einen Einsatz. Sie fuhren in eine Wohnung, die Robert schon von früheren Einsätzen her kannte. Die Frau war alkohol- und drogenabhängig, ihre Wohnung voller Müll und Dreck.

Sie lag nackt und zusammengekrümmt in der dreckigen Toilette, hatte sich erbrochen und war am ganzen Körper mit geronnenem Blut beschmiert. Die Leiche hatte schon längere Zeit dort gelegen. Ihm war schon vorher übel gewesen, jetzt musste er würgen. Normalerweise konnte er solche Erlebnisse gut wegstecken, er war hart gesotten. Aber der Geruch, der Dreck und der fortgeschrittene Verwesungsprozess der Leiche setzten ihm heute zu, schließlich musste er sich übergeben. Als guter Polizist hatte er sich dafür das Spülbecken in der Küche ausgesucht, um die Spuren im Klo nicht zu überdecken. Robert meldete sich beim Einsatzleiter ab und fuhr nach Hause. In diesem Zustand war er nicht dienstfähig. Susanne sieht bestimmt noch einen Film im Fernsehen, dachte er. Er wollte sie fest in die Arme schließen, um zu spüren, dass noch Leben in ihm war, dass das Leben auch schöne Seiten hatte und nicht nur die Abgründe, die er mal wieder erleben musste. Ein gemeinsames Bier, ein wenig plaudern – hoffentlich konnte er dann schlafen.

Er schloss die Haustür auf und fand Susanne in der Küche sitzend vor. Sie hatte drei Koffer bereitgestellt und war dabei ihren Rucksack zu packen, den sie so gern überall mit hinnahm, weil sie Handtaschen nicht leiden mochte. Susanne bekam einen knallroten Kopf, ihre Hand zitterte, sie sprang auf, griff nach ihrem Handy, um ein Taxi zu rufen, packte das Handy wieder weg, weil sie spürte, so konnte sie jetzt nicht mehr gehen. Genau diese Situation hatte sie vermeiden wollen. Sie wollte ihn heimlich und ohne jedes Aufsehen verlassen. Einfach nicht mehr da sein, wenn er kam. Sie hatte sich gefragt, wann er überhaupt bemerken würde, dass sie nicht mehr da war. Sich dann aber trotzdem für einen Abschiedsbrief entschieden. Robert begriff schnell und war geschockt. Auf der Stelle rebellierte sein Magen und er musste wieder zum Klo.

»Ich habe dir einen Brief hingelegt«, sagte sie, als er zurück in die Küche kam, »ich kann so nicht weiterleben. Ich werde weit weggehen. Ich habe jemanden kennengelernt. Sei mir nicht böse, aber das hier, ist nicht mehr mein Leben!« Roberts Gesicht verkrampfte sich zu einer Maske, er dachte daran, dass er seiner Frau ein absolut sorgenfreies Leben ermöglicht hatte und zum Dank dafür verließ sie ihn jetzt. Sie, mit der das Leben so schön und bequem war, wollte jetzt alles kaputtmachen. Er verlor die Beherrschung, schrie Susanne an, machte Schritte auf sie zu, schüttelte sie.

  »Du scheiß Schlampe!«, schrie er immer wieder, »du verdammtes Luder.« Sie schrie zurück: »Fass mich nicht an, du Schlappschwanz!« Robert riss seinen Schlagstock aus dem Gürtel und schlug mit voller Kraft auf Susanne ein. Sie war schnell bewusstlos, außer einem »Nein!« hatte sie keinen Laut mehr herausgebracht. Er schlug immer und immer wieder zu, hatte die Kontrolle über sich verloren. Schließlich spürte er die Schmerzen in seinem verkrampften Arm. Als er sich aufrichtete, sah er sofort, dass er Susanne totgeprügelt hatte, das sagte ihm die Erfahrung seines langen Berufslebens. Tief holte er Luft, versuchte, seinen Atem zu kontrollieren, um sich zu beruhigen. Es gelang ihm nicht. Völlig fertig ließ er sich in der Küche auf einen Stuhl nieder. Es dauerte lange, bis ihm langsam bewusst wurde, was er da angerichtet hatte. Schließlich nahm er die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank und trank daraus, als wäre es Wasser. Wohlige Wärme machte sich nach kurzer Zeit in ihm breit. Er kannte dieses Gefühl, es ließ ihn ruhig werden, sein Verstand funktionierte wieder etwas klarer. Er griff nach dem Brief auf dem Küchentisch und öffnete ihn.

 

Hallo Robert,

wenn du diesen Brief liest, bin ich schon weit weg. Ich habe und werde alle Spuren hinter mir verwischen. Gib dir keine Mühe, mich zu finden. Es würde dir sowieso nichts nützen.

Du willst sicher wissen warum?

Wir sind schon lange kein richtiges Paar mehr. Du arbeitest, gehst zur Jagd, bist mit den Jägern unterwegs oder ziehst dich in deine Schlachterei zurück. Wir haben getrennte Schlafzimmer, du redest kaum noch mit mir, unsere einzige Gemeinsamkeit liegt darin, dass wir manchmal zusammen in die Flimmerkiste starren. Ich bin immer öfter allein ausgegangen, wenn du Nachtschicht hattest. Über das Internet habe ich einige Männer kennengelernt, es waren tolle Abenteuer dabei. Das hat mir geholfen, die Situation mit dir zu ertragen. Vor einiger Zeit habe ich mich allerdings ernsthaft verliebt und dadurch habe ich die Lust an anderen Abenteuern verloren. Zu diesem Mann werde ich jetzt gehen. Ich habe mir eine größere Summe Bargeld von unserem Sparbuch genommen. Die Kontokarten lasse ich dir hier. Weiteres Geld brauche ich nicht.

Ich wünsche dir alles Gute.

Susanne

 

Robert war entsetzt. Wie hatte Susanne mit ihm leben können? Ihn so freundlich begrüßen können, wenn er nach Hause kam? Sein WhatsApp-Account war voll mit Herzchen und Küsschen. Wie konnte ein Mensch derartig verlogen sein? Warum hatte er nie etwas bemerkt? Er war doch Polizist, ausgebildet und geschult. Sie hatten so ein schönes Leben und nun hatte sie alles zerstört. Susanne hatte mehr als den Tod verdient, davon war Robert fest überzeugt. Er war der Richter, nicht der Täter.

Vorsichtshalber löschte er das Licht im Haus, schaltete die Sicherungen für die Außenbeleuchtung ebenfalls aus und schleppte Susanne in seinen Hobbyraum. Der Knoten um ihre Handgelenke hielt, als er sie an der Wand hochzog. Mit dem Messer schnitt er ihr die Kleider vom Leib und begann sie waidgerecht zu zerlegen. Er arbeitete schnell und professionell wie immer, nahm noch ein Wasserglas voll Schnaps aus der Flasche und verstaute die zerkleinerten Teile seiner Frau, in handliche Pakete verpackt, in die unteren Fächern seiner Tiefkühltruhen.

Am Anfang ihrer Beziehung hatte er sich darauf eingelassen, Herzchen, Küsschen, Rosen und diesen ganzen Mist, mit dem er nichts anfangen konnte, per Handy auszutauschen. Das war wohl der Preis dafür, dass er zum ersten Mal so viel Sex mit einer Frau haben konnte, wie er wollte. Vor Susanne hatte er in dieser Hinsicht nicht viel erlebt. Ab und zu mal eine schnelle Nummer mit einer Polizeischülerin in der Ausbildungskaserne und eine kurzzeitige Affäre mit einer Kollegin aus dem Büro, mehr war da nicht. Susannes anfängliche Leidenschaft war allerdings schnell erloschen. Es ergaben sich kaum noch Situationen, in denen es zu Sex hätte kommen können.

Hin und wieder verspürte er Lust, mit ihr zu schlafen, jeder seiner Versuche sich ihr zu nähern, scheiterte aber. Mal hatte sie ihre Tage, mal war sie zu müde und letztendlich hatte Robert es einfach aufgegeben. Er war zu unbeholfen, um eine Frau zu verführen. Frauen haben vielleicht nicht so häufig sexuelle Bedürfnisse, hört man ja immer wieder, dachte er und gab sich damit zufrieden. Robert liebte Susanne auf seine Weise und wollte sie auf keinen Fall verlieren. Mit dem fehlenden Sex kam er schon zurecht.

 

Die tiefen Fächer in der Tiefkühltruhe leerten sich so nach und nach. Susannes Innereien waren bei den Wildschweinen gelandet, den Rest hatte er zu Hackfleisch verarbeitet oder zermahlen.

Die Tiere des Waldes hatten sich an die reichhaltige Nahrung auf dem Luderplatz gewöhnt. Im Moor traute sich niemand, die ausgewiesenen und befestigten Wege zu verlassen. Es standen genug Warnschilder an den Wegen. Die Jäger wussten selbstverständlich, wo sie laufen konnten und woran man morastige Stellen erkennt. Robert ging regelmäßig ins Moor, obwohl ihm dabei nicht wohl war. Immer wieder verfolgten ihn die Moorlichter oder versuchten, ihn in morastiges Gelände zu leiten. Er war froh, wenn er den Luderplatz wieder verlassen konnte. Er wusste schließlich, dass es kaum eine bessere Methode gab, eine Leiche spurlos verschwinden zu lassen.

 

Robert briet in der Küche mehrere Stücke Rehfilet, öffnete ein Glas Rotkohl und schob den Kartoffelauflauf in den Backofen. Dazu hatte er sich eine Dose Birnen aufgemacht und mit Preiselbeeren gefüllt. Er war kein exzellenter Koch, aber was er zubereitete, schmeckte gut und zu Besuch kam niemand. Er dachte an die Anfangszeit mit seiner Frau und daran, wie es wohl gewesen wäre, sich eine Freundin zuzulegen. Vielleicht eine Jägerin, die mit ihm Urlaub in Osteuropa machte, wo sie dann nach Herzenslust jagen konnten.

Das Telefon klingelte. Er drückte den grünen Knopf und sagte: »Robert Gramgerber.«

Es herrschte einen Augenblick lang Stille. Dann legte der Anrufer oder die Anruferin wieder auf. Auf dem Display stand: `Nummer unterdrückt´. Robert kannte das schon. Er wusste aus der Dienststelle, dass Einbrecher auf diesem Wege abcheckten, ob ein Haus eventuell leer steht. Vor Dieben hatte er keine Angst. Sein Haus war ziemlich sicher und vor allem seine Schlachterei war so angelegt, dass kein ungebetener Gast eindringen konnte. Rund ums Haus hatte er Leuchtmittel mit Bewegungsmeldern kombiniert und mehrere Kameras, Sicherheitsverriegelungen und Alarmanlagen, die losdröhnten, wenn Glas splitterte. Er wusste, dass Einbrecher schnell weiterzogen, wenn irgendwelche Hindernisse auftauchten, schließlich hatten sie nicht viel Zeit.

Vielleicht war es ja auch ein verflossener Liebhaber, der den Kontakt zu Susanne wieder aufnehmen wollte. Vielleicht der große Unbekannte aus Spanien?

 

Zwei Tage später klingelte das Telefon erneut. Er meldete sich und wartete darauf, dass der Anrufer wie zuvor auflegte. Diesmal war es angeblich ein Versicherungsvertreter, der seine Frau sprechen wollte. »Meine Frau hat mich verlassen. In ihrem Abschiedsbrief stand kein Hinweis auf ihren neuen Aufenthaltsort. Ich vermute sie irgendwo in Spanien. Wenn Sie sie finden, bestellen Sie bitte einen schönen Gruß von mir. Ich komme auch ohne sie gut zurecht.«

 

Robert wusste, dass ihm nichts passieren konnte, es verschwanden zu viele Menschen jeden Tag. Als er die Vermisstenmeldung zusammen mit ihrem Abschiedsbrief abgeben hatte, sagte der Kollege tröstend: »Du weißt ja, dass es nichts bringt, in diesem Fall etwas zu unternehmen.«

 

Robert hatte wieder einmal schlecht geschlafen, in seinen Träumen geisterten Irrlichter durch das Haus und verfolgten ihn. Er war von seinem eigenen Schrei aufgewacht, saß zitternd im Bett und war durch und durch nassgeschwitzt. Sein Puls raste, sein Repertoire an Atemübungen reichte zur Beruhigung nicht aus. Schließlich stand er auf, um endlich alle Reste seiner Frau auf dem Luderplatz zu entsorgen. Vielleicht beruhigte es ihn, wenn nichts mehr von ihr im Haus war, um endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen zu können.

 

Es war fast noch dunkel, als er durch das Moor zu seinem Luderplatz stapfte. Wieder sah er diese Erscheinungen auf seinem Weg tanzen. Die Moorlichter sahen im frühen Morgennebel besonders gespenstisch aus. Zwar wusste Robert, dass die Irrlichter ein natürliches Phänomen waren, aber das Wissen half ihm nicht, seine Angst zu überwinden. Er gruselte sich heute ganz besonders. Der Schlafmangel zerrte an seinen Nerven, er fühlte sich schlapp und völlig ausgelaugt. Das Bild der Magd, die ihr Kind im Moor vergrub, sah er immer wieder vor seinem geistigen Auge. Die Angst hatte ihn im Griff, obwohl er nicht wusste warum und wovor er sich fürchtete. Er schlug einen anderen Weg ein, um sich dem Luderplatz von einer anderen Seite zu nähern. Sein Versuch, den Moorlichtern auszuweichen, scheiterte. Wieder blieb er lange stehen, merkte, wie die Kälte sich in ihm breitmachte, ging ein paar Schritte rückwärts, blieb wieder stehen, überlegte, sich durch das Gestrüpp einen Weg zu bahnen, ging noch ein paar Schritte rückwärts, stolperte schließlich über eine Birkenwurzel und fiel nach hinten in den Moorsee. Schnell kam er wieder hoch, ein paar Schwimmzüge auf dem Rücken hielten ihn über Wasser, er entfernte sich dadurch aber weiter vom Ufer. Schließlich richtete er sich auf und hielt sein Gewehr über Wasser, er sackte mit den Füßen im Schlamm ein, versuchte sich zu befreien, es gelang ihm aber nicht. Wenn er ein Bein anheben wollte, sackte er mit dem anderen Fuß umso tiefer in den Morast. »Scheiße«, schrie er laut. Wäre irgendjemand in der Nähe gewesen, hätte er ihn gehört. »Helft mir!«, brüllte er immer wieder durch das Moor. So schnell versinke ich nicht, schoss ihm als Gedanke durch den Kopf, aber befreien kann ich mich auch nicht. Sein Puls raste, er zitterte vor Kälte und Angst. Es ist so ausweglos, wie mein ganzes Leben, ich will hier nicht jämmerlich absaufen. Wieder schrie Robert in das Morgengrauen. Er lauschte, hörte aber nur die ersten Vögel zwitschern. Robert spürte, wie ihn die Kraft verließ, wusste, dass er bald Schwäche und unterkühlt zusammensinken und absaufen würde. Ein letztes hasserfülltes »Scheiße« schrie er mit wahnsinniger Lautstärke, es galt Susanne. Mit letzter Kraft schob er sich seine Jagdwaffe tief in den Mund und drückte mit ausgestreckter Hand gegen den Abzug. In der Ferne bellte laut ein Hund.

 

 

 

 

 

 

Für immer                                                           Eckard Klages

 

Er lag auf dem Rücken, auf einer verschlissenen und übel nach Hund riechenden Decke. Seine Hände und seine Füße steckten in Handschellen, die mit Ketten an der Wand befestigt waren und seine Bewegungsfreiheit massiv einschränkten. Max spürte mehr den Betonboden als die Hundedecke, wusste nicht, wie lange er schon so lag und wusste auch nicht, wie er in dieses Verlies gelangt war. Aus einem Lautsprecher tönte »Für immer und Dich« von Rio Reiser in einer Endlosschleife. Kaum war es zu Ende, dröhnte das Intro wieder durch sein dunkles Verlies.

 

Max bewegte den Kopf nach vorn und wieder zurück, wiederholte diese Bewegung, spannte dabei seine Muskeln an, zog seine Zehen in Richtung seiner Knie und streckte sie dann so weit er konnte. Sein Kopf schmerzte, vermutlich hatte man ihn mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen. Er zog an den Ketten, sie spannten sich, waren aber so fest in der Wand verankert, dass er sie nicht lockern und herausziehen konnte. Die LED-Lichter der Anlage verschafften ihm so viel Licht, dass er sich im Raum orientieren konnte. Über ihm hing ein Behälter, aus dem in unregelmäßigen Abständen Wassertropfen hervorquollen. Es war seine einzige Versorgungsquelle. Er hatte Angst den Kopf zur Seite zu drehen, damit der Wassertropfen sein Gesicht nicht verfehlte. Sein Körper brauchte die Flüssigkeit, er versuchte herauszufinden, in welchen Abständen die Wassertropfen auf ihn trafen, versuchte eine Verbindung herzustellen, zwischen den Liedzeilen und dem Fall der Tropfen. Grad, wenn er eine Regelmäßigkeit zu erkennen glaubte, wurde sie wieder außer Kraft gesetzt. Seine Konzentrationsfähigkeit war beeinträchtigt, seine Gedanken schweiften ab, er schlief immer mal wieder ein, die Wassertropfen verhinderten aber, dass er in einen tiefen Schlaf fallen konnte. Sein Rücken schmerzte immer stärker. Er konnte nur leichte Schaukelbewegungen nach links und rechts machen. Sein Zeitgefühl hatte er verloren. Er konnte nicht mehr einschätzen, wie lange er hier schon lag, zumal er immer mal wieder in einen Dämmerzustand verfiel. Wie oft hatte er inzwischen »Für immer und Dich« gehört?

Max schätzte das Lied auf ungefähr 5 Minuten und versuchte mitzuzählen, kam immer wieder durcheinander und gab es schließlich auf. Er kannte das Lied sehr gut, hatte es oft gehört. Viele Frauen, mit denen zusammen gewesen war, hatten die CD. Sie lag in ihren Schubladen, CD-Regalen, auf der Anlage. Ina hatte sie mit Nägeln an der Wand befestigt, Regine hatte gleich mehrere Aufnahmen von diesem Stück. Eine Live-Aufnahme und eine Fassung von Jan Plewka, der mit Rios Liedern durch die Lande tourte, eine von Johannes Örding und eine von Marianne Rosenberg.
Ging es um einen Racheakt? Kriminelle, die auf Geld aus waren, hätten bestimmt nicht ein Liebeslied ausgesucht, geschweige denn einen solchen Aufwand betrieben.  Er wusste aber nicht, welche Frau er so verletzt haben könnte, dass sie sich auf diese Art an ihm rächen würde. Max war mit sehr vielen Frauen zusammen gewesen, mochte das Wort Zweierbeziehung aber nicht. Er hatte sich nie verlobt, war nie verheiratet gewesen, Kontakte zu den Eltern von Freundinnen vermied er, schob Terminschwierigkeiten vor, ließ Beziehungen einfach auslaufen, vergaß »Schluss zu machen«, ärgerte sich über wütende Reaktionen, wenn er mit einer Frau auf eine andere traf, die fest davon überzeugt war, irgendein Recht auf eine Beziehung mit ihm allein zu haben.

»Für immer und Dich«. Den Song hatte Max immer ganz gern gehört, er mochte die raue Stimme von Rio Reiser, sie erzeugte eine ganz besondere Stimmung, das Gefühl sich in einer einzigartigen Situation zu befinden. Bei Regine lief die CD grundsätzlich, wenn sie zusammen schliefen. Sie benutzte für dieses Lied sehr gern die Repeattaste. Jetzt würde er sich am Liebsten die Ohren verstopfen, den Stecker aus der Wand reißen, die Anlage zertreten oder an die Wand werfen. Doch kaum war Rio fertig, begann das Lied von vorn, unerbittlich.

Das Letzte, an was er sich erinnern konnte, war sein Messebesuch in Bremen. Es war alles hervorragend gelaufen. Die Abschlüsse waren gut, mit dem Messeteam war es gut gelaufen und mit Grit, der studentischen Aushilfe, hatte er sich gut verstanden. Sie hatte sich zwar geweigert, mit ihm in die Kiste zu gehen, aber sie waren sich an der Bar sehr nahe gekommen, hatten heftig geflirtet, ihr Lachen und das Blitzen ihrer Augen hatten ihn erregt. Da ging bestimmt noch mal was. Man muss eben auch mal warten können, irgendwann würde sie sich schon melden.

Er war zurück nach Bad Zwischenahn gefahren, in sein Haus am Bachmannsweg. Er hatte es von einer Patentante geerbt, die ihn sehr gern gemocht hatte. Seine Erinnerung riss ab, als er sich niedergebeugt hatte, um die Tür der Garage zu schließen. Erst in seinem Verließ war er wieder aufgewacht, hatte gerufen bis er heiser war. Nichts, keine Reaktion. Die Wut war aus ihm herausgebrochen. Immer wieder hatte er »Scheiße« geschrien. Dann schüttelte ihn ein Heulkrampf. Die Tränen liefen ihm die Wange hinunter, zum ersten Mal, seit er ein Kind gewesen war. Er schluchzte, war völlig verzweifelt. Fand sich damit ab, dass sein Leben hier ein Ende nehmen würde. Schrie wieder »Holt mich hier raus«. Lachte wie ein Irrer, weil ihm die Komik seines Hilferufes bewusst wurde, konnte nicht aufhören zu lachen, bis er wieder innerlich zusammenbrach und in einen komatösen Zustand verfiel.

Sein Kopf fiel zur Seite, der Wassertropfen traf seine Wange. Er versuchte vergeblich den Kopf so zu drehen, dass der Tropfen noch in Richtung seines Mundes lief. Max konzentrierte sich auf den Text, versuchte einzelne Zeilen zu analysieren, um einen Hinweis auf seine eventuelle Kerkermeisterin zu bekommen, es fiel ihm nichts ein.  Manchmal fror er furchtbar, die Kälte aus dem Boden stieg durch die Hundedecke in seinen Körper, dann war ihm wieder zu heiß. Der Hunger quälte ihn nicht mehr ganz so schlimm wie am Anfang, dafür aber ständig. Ihm war schlecht. Die Wassertropfen reichten nicht aus, um seinen Durst zu stillen. Er wusste aber auch, dass er sehr schnell sterben würde, wenn er die wenigen Wassertropfen nicht auffangen konnte, oder noch schlimmer, wenn es aufhören würde zu tropfen. Er bekam panische Angst.

Die Musik war so laut, dass andere Geräusche keine Chance hatten in sein Ohr zu dringen. Nur zwischen zwei Liedern war ein kurzer Moment der Stille. Manchmal hörte er Vögel schreien, bevor er die Schreie identifizieren konnte, begann die Musik wieder, laut und unerbittlich. Den Kampf gegen seine Blase und seinen Schließmuskel hatte er verloren, es stank bestialisch. Er schrie wieder, seine Stimme war heiser, sein Hals trocken. Er dachte daran, die Wassertropfen nicht mehr aufzufangen, um seinen Tod zu beschleunigen. Dann spürte er, wie das Wasser in einem schnelleren Takt auf sein Gesicht tropfte. Gierig sog er die Tropfen auf.

"Ich sing für dich,

ich schrei für dich,
für dich und immer für dich." (Rio Reiser)

 

Ihm war schlecht, er verspürte tierischen Hunger. Die Wassertropfen fielen jetzt immerhin so schnell, dass seine Lippen, sein Mund und sein Hals nicht mehr so wahnsinnig trocken waren. Die Tropfen hatten jetzt aber einen leichten süßlichen Beigeschmack, der ihm nicht unangenehm war, er konnte die Geschmacksrichtung aber auch nicht zuordnen. Wie gern hätte er mal wieder richtig getrunken, statt der vielen Tropfen mal ein paar Schluck Wasser. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, ob er irgendwelche Geräusche wahrnehmen konnte, wenn die Musik leiser wurde oder in den kurzen Pausen, bevor das Lied wieder einsetzte. Leise Schreie von Vögeln drangen in sein Ohr, er spürte die leichte Vibrationen, die ein schweres Straßenfahrzeug erzeugt, den Motorlärm konnte er nur sehr undeutlich hören. Die tierischen Schreie könnten von Möven stammen, dachte er. Das brachte ihn aber nicht weiter, Möven gab es im Ammerland überall.

Katharina war sehr sauer gewesen, als sie ihn nach drei Wochen anrief und ihn fragte, warum er sich nicht mehr melden würde. Hab viel zu tun, hatte er gesagt, ich melde mich ganz bestimmt wieder, wenn ich mehr Zeit habe. Sie hatte  »Arschloch« zu ihm am Telefon gesagt, bevor er das Gespräch weggedrückt hatte. Vier Wochen später hatte er sie mit einem anderen Typen gesehen, sie gingen händchenhaltend durch die Stadt. Sie hatte auffällig weggesehen, wollte wohl nicht das er »Moin« sagte. Wollte vermutlich nicht erklären müssen, woher sie ihn kannte. Ihm war das recht, sie war ihm ziemlich schnell auf die Eier gegangen. Ihre Vorstellungen von Romantik trafen passgenau mit seinen Vorstellungen von absolutem Kitsch zusammen. Vor lauter Kerzen und Rosenblättern, Goldsternchen und roten Herzen in jeder Form, kam es nur selten zu dem, was er eigentlich wollte. Auch Rio hatte sein Lied bestimmt nicht für solche Szenarien geschrieben, für die er jetzt missbraucht wurde. Kannst du nicht einfach mal die Fresse halten, hatte er schon ziemlich schnell gedacht, aber solche Sprüche passen einfach nicht zu roten Herzen auf Rosenblättern. So hatte er sich schnell wieder verdrückt, obwohl sie rein äußerlich sehr attraktiv war und im Bett keinen Widerstand leistete, was immer er auch mit ihr tat. Aber zu solchen Racheakten wie diesem hier war sie, nach seiner Einschätzung, nicht fähig. Er war meistens gut drauf, lustig und charmant, konnte viel erzählen, von seinen unzähligen Messebesuchen und seinen sportlichen Aktivitäten: Klettern, Fallschirm- springen, Kite-Surfen und Snowboard-Fahren. Er konnte sich das alles leisten, verdiente sehr gut, hatte einiges geerbt, war mit seinem Leben absolut  zufrieden. Er hatte nun mal keinen Bock auf längerfristige Beziehungen, wollte sich nicht einschränken lassen, sich nicht rechtfertigen müssen. Jede Frau war ein neues Abenteuer, eine spannende Erfahrung.   Er empfand ein starkes Glücksgefühl, wenn er aus einem Flugzeug sprang, mit dem Snowboard eine schwarze Piste runterfuhr oder mit dem Wakeboard von einer Rampe abhob. Der absolut geile Kick, dass war es, was ihn anturnte. Sex machte ihm ebenfalls ungeheuer viel Spaß, er war ausdauernd, wie beim Sport, liebte die Abwechslung, war erfindungsreich und wusste genau, wie Frauen sexuell tickten. Er mochte es gern, wenn Frauen ihm zuhörten, an seinen Lippen klebten. Ihn bewunderten für alles, was er schon erlebt hatte, dankbar waren, weil sich ein so toller Mann gerade um sie  ganz besonders intensiv kümmerte. 

Die Wassertropfen fielen jetzt in schneller Folge in sein Gesicht, er sog gierig jeden Tropfen auf. Schöpfte Hoffnung, bewegte Arme und Beine, drehte seinen Körper vorsichtig von einer Seite auf die andere, soweit die Ketten das zuließen. Schrie: »Hallo, ich hab es verstanden, es tut mir leid, wenn ich was falsch gemacht habe.« Ihm war heiß, er fühlte sich fiebrig, seine Knochen schmerzten stärker.

Die Wassertropfen trafen ihn wieder in einem langsameren Rhythmus, hörten schließlich ganz auf. Er hatte die Hoffnung,  dass gleich eine Tür aufging und er von seinem Leiden erlöst wurde. Irgendwann musste eine Frau doch vom Mitleid übermannt werden, das war doch die Stärke von Frauen, Mitgefühl und Mitleid. »Ich bin Dir auch nicht böse, alles wieder gut, aber mach mich jetzt bitte, bitte wieder los. Bitte!«, schrie er. Er wartete darauf, dass etwas geschehen würde, sich eine Tür öffnete, eine Frau über ein Mikro zu ihm sprach, doch es war nur die Stimme von Rio, die er hörte.

Musste er jetzt auf den Tod warten, ins Koma fallen? Machte es Sinn sich zu wehren? Ohne Wasser hatte er nicht mehr viel Zeit. Er fühlte sich furchtbar elend, seine wunden Stellen am Rücken, schmerzten wahnsinnig, vor allem, wenn er sich bewegte. Was hatte er gemacht, dass es einen Menschen dazu treiben konnte, ihn so elendig verrecken zu lassen? Wieder zermarterte er sein Gedächtnis, ließ seine Frauen Revue passieren. Einige hatten sich per SMS dafür »bedankt«, dass er sie so gründlich verarscht hatte. Andere hatten offenbar schnell begriffen, dass Max kein Typ für eine feste Beziehung war. Er kannte Frauen, die selbst in einer  Beziehung lebten und froh waren, wenn ein Mann  nicht klammerte, wenn er sich nicht mehr meldete, wenn außer der schönen Erinnerung nichts blieb. Die konnte er wohl komplett ausschließen. Ihm fiel Viona ein. Sie trafen sich einmal im Jahr in Leipzig auf der Messe, verlebten eine geile Nacht miteinander und trennten sich wieder. Viona war große Klasse. Wenig Gefühl, lang anhaltender Sex, keine nervige Fragerei, kein SMS - Bombardement. Perfekt!

Tamara fiel ihm ein, Tamara, die im Bett sehr dominant war, ihm die einmalige Erfahrung verschaffte, Objekt der Begierde einer Frau zu sein. Sie war durchtrainiert, kräftig und von hoher Ausdauer, schaffte es immer wieder sich auf ihn zu schwingen und ihre Lust selbst zu steuern. Ihr würde er schon eher diese Form von Rache zutrauen. Max hatte sich einfach nicht mehr bei ihr gemeldet, fand keinen anderen Weg, um aus dieser Situation herauszukommen. Er hatte sie Anfangs toll gefunden, war dankbar für die neuen Erfahrungen, die er mit ihr machen konnte, war sogar ein wenig verliebt, ein Gefühl, das er nur sehr selten hatte. Als er ihre erste »Ich liebe Dich-SMS« bekam, war es vorbei mit seinem Gefühl. Nach der fünften SMS schrieb er »Ich liebe Dich!« zurück, um weiteren Fragen nach seinem Gefühlsleben  aus dem Weg zu gehen. Anschließend ärgerte er sich über sich selbst, die SMS geschrieben zu haben. Es war die letzte Nachricht, die sie von ihm bekam.

 

Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Er war sich jetzt sicher, dass er Fieber hatte. Der Durst quälte ihn auf äußerst schmerzhafte Art und Weise. Ohne Flüssigkeit würde er mit dem Fieber nicht mehr lange leben. Er schloss die Augen, fiel in einen komatösen Schlaf.

Als er wieder zu Bewußtsein kam, hörte er Rios Stimme nicht mehr. Seine Augen waren verbunden, trotzdem spürte er, dass es hell um ihn herum war. In seinem Verließ hatte es schon schrecklich gestunken, jetzt stank es nach Mist und Schweinecheiße. Er spürte das Fieber, obwohl die kühle Luft die Hitzewallungen linderte. 

Max wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Er lag in einem blitzsauberen Bett, blinzelte in die Sonne, die durch das Fenster in sein Bett schien. Er richtete sich auf, begriff, dass sein Martyrium ein Ende hatte, fühlte sich schlagartig besser. Sie hatten ihn an einen Tropf gehängt und ein Glas Wasser auf seinen Nachttisch gestellt. Die Sonne tat ihm gut, es war alles sauber und ordentlich. Eine Schwester kam in sein Zimmer, sie hatte ein Telefon in der Hand. Max lächelte sie an, sie gefiel ihm auf Anhieb.  «Schön, dass sie aufgewacht sind. Hier ist ein Gespräch für Sie, ich glaube, da hat jemand Sehnsucht. Wollen Sie es annehmen?«  Als er den Telefonhörer an sein Ohr drückte, schrie er laut auf. Durch das Telefon hörte er Rios raue Stimme: »Für dich und immer für dich . . .«

 

       

 

 

Alles Asche                                                    Eckard Klages

 

Kommissar Ralf Aschenbrenner saß in der letzten Reihe des Beerdigungsinstituts und lenkte sich in seinen Gedanken mit dem nächsten Wochenende ab. Ausspannen! Essen! Korn und Beer – fein Pläsir! Das überaus gemütliche holländische Hausboot von Freddys Onkel lag bereit im Hafen von Greetsiel. Liebevoll überholt und gut ausgestattet. Sie trafen sich einmal im Jahr auf diesem Boot, kochten zusammen, tranken Bier und Dörgeneiten. Wenn es gerade mal passte, dann machen sie auch eine kleine Tour. Er freute sich tierisch darauf, so viel Freizeit an einem Stück hatte er selten. Jetzt aber musste er dringend pinkeln. Die Trauerrednerin sprach gerade von den schönen Erlebnissen, die viele der Anwesenden mit der Toten, Lisa Schneider, erleben durften. Sie war Aschenbrenners Nachbarin, jedenfalls bis letzte Woche. Eine Lungenembolie hatte ihrem Leben überraschend ein Ende bereitet.  Zu ihren Lebzeiten hatte sie kaum Kontakte zu ihrer Verwandtschaft. Nun schluchzten sie was das Zeug hielt.

Aschenbrenner mochte nicht aufstehen und zur Toilette gehen. Er hielt das stärker werdende, unangenehme Gefühl lieber aus. Seine angegriffene Prostata machte es ihm nicht leichter. Die Trauerrednerin zitierte aus einem Gedicht von Erich Fried: „Fragen und Antworten …“ Die Zeremonie näherte sich dem Ende. Die Orgel spielte „Air“ von Bach. Alles, was zu einer schönen Beerdigung gehörte. Der Sarg blieb stehen, es war Lisas letzter Wille, verbrannt zu werden. Nie musste ein Kommissar pinkeln. Nur er! Jetzt! Er konnte sich unmöglich an der Trauergemeinde vorbeidrängeln, um zur Toilette zu hasten. Er öffnete vorsichtig eine Tür auf der „Zutritt nur für Mitarbeiter“ stand. Schnell schaute er sich um und fand die Personaltoilette. Er schloss die Tür von innen und spürte binnen kurzer Zeit eine fast orgiastische Erleichterung. Er sah sich beim Händewaschen im Spiegel an und stellte fest, dass er dringend mal wieder ein Wochenende im Bett verbringen müsste und zwar ohne Beate oder so. Bei der vor ihm liegenden, kulinarischen Bootsreise würde sein riesiges Schlafdefizit aber eher noch weiter ins Minus fallen. Von der zusätzlichen körperlichen Belastung durch die verschiedensten Genüsse, die zum Ritual der kleinen Männergruppe gehörten, einmal ganz abgesehen.

Aschenbrenner öffnete vorsichtig die Tür. Er wollte so unauffällig wie möglich wieder zur Trauergemeinde stoßen, kondolieren und dann schnell verschwinden. Zwei Männer kamen auf die Toilette zu. Sie unterhielten sich:  "Was liegt heute noch an?“ fragte der eine von ihnen. „Noch drei Urnen und einmal Streuwiese ohne. "Sie liefen an der Tür vorbei und Aschenbrenner konnte sich wie geplant unauffällig hinten an der Kondolenzschlange anstellen. Während er wartete, sah er an der Tür eine Liste mit drei Familiennamen. Davor stand jeweils die Zeit für die Trauerfeier. Es fiel ihm auf, dass es Unstimmigkeiten zwischen dem Dienstplan der beiden Männer und dieser Liste gab.

„Mein herzliches Beileid. Lisa war mir eine wirklich liebe Nachbarin, ich werde sie sehr vermissen. Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die nächste Zeit.“ „Danke“, sagten die beiden Frauen fast gleichzeitig, „kommen Sie doch noch mit zu unserer Kaffeetafel.“ „Wirklich sehr gern, aber ich muss leider zum Dienst, seien Sie mir nicht böse. Es war schon schwer genug, mich für die Trauerfeier loszueisen.“ „Schade“, sagte die eine der beiden, in ihrem Blick lag alles andere als Trauer, „ich hätte mich gern noch etwas mit Ihnen unterhalten!“

Aschenbrenner fuhr ins Büro, nahm seine Assistentin Manu in den Arm und zog dann seine Jacke aus.

„Alles in Ordnung mit Dir?“ 

Ich komme gerade von einer Beerdigung, da spüre ich doch gern einmal ein bisschen pralles Leben.“

Manu Borchers antwortete übertrieben theatralisch: „ Ich torkele von einer Diät in die nächste und zum Dank dafür werde ich an meinem Arbeitsplatz als „prall“ beschimpft.

"Und wie war es?“

„Wie so was so ist.“

„Und wie geht’s sonst?“

„Gestern ging es noch!“

„Das freut mich für Dich.“

„Gibt es irgendetwas Neues?“

„Nö, alles beim Alten.“

„Und was hast Du gemacht in der Zeit, in der ich weg war?“

„Ich hab am Fenster gestanden und auf Dich gewartet, wie immer.“

 

Sie liebten platte Dialoge über alles. Besonders, wenn sie  aus Versatzstücken der hohlen Phrasen ihrer Kolleginnen und Kollegen bestanden. Sie machten sich immer wieder gern über diese lustig. Psychohygiene nannte Aschenbrenner das.

„Sag mal, weißt du ob es in Beerdigungsinstituten Streuwiesen gibt?“ Manu lachte aus vollem Hals. „Du meinst, da wird die Asche verstreut oder die Gebeine? Du hast vielleicht eine Fantasie. In meinem Testament steht dann: „Ich möchte zu Ralf Aschenbrenner gestreut werden, damit wir für immer vereint sind!“

„Mir kommt das auch sehr merkwürdig vor, aber irgendeine Bedeutung muss das haben. Ich sehe mal im Internet nach.“

Eine Weile später hatte er sich schlau gemacht. Er dozierte als hätte er sich in seinem Leben nie mit etwas anderem beschäftigt, als mit der professionellen Beseitigung von Körpern, deren Seele vor nicht allzu langer Zeit entschwunden war. „Wer verfügt, dass er verbrannt werden möchte, der kann auch bestimmen, dass seine Asche nicht aufgehoben wird. Diese wird dann von den Verwandten oder von den Angestellten auf einer Wiese verstreut. Daher Streuwiese oder Streufeld.“

„ Unglaublich!“

„Es kommt noch besser, wusstest Du, dass nach dem Verbrennen nicht etwa ein kleines Häufchen Asche überbleibt, sondern auch Knochen und ganze Gelenke. Selbstverständlich auch künstliche Gelenke, Sargnägel und alle möglichen Gebissteile?“

„Was passiert damit?“, fragte Manu mit leicht verzogenem Gesicht.

„Die Metallteile werden aussortiert und kommen in den Metallcontainer. Die Verwertung und die damit verbundenen Gewinne darf das Beerdigungsinstitut für sich behalten. Kommt vermutlich in die Freud- und Leidkasse. Die Knochen werden in einer Knochenmühle so fein gemahlen, dass sie anschließend zusammen mit der Asche in die Urne passen. Ob jemand zu seinen Lebzeiten dick oder dünn war, spielt bei der Menge der Asche  übrigens nur eine unwesentliche Rolle. Zuerst wird dem Körper durch Hitze das Wasser entzogen, dann entzündet sich der Leib ganz von selbst.

„Aschi, Du willst doch nur, dass ich ohnmächtig in Deine Arme sinke!“

„Ja, aber der Sachverhalt stimmt trotzdem. Lass uns Feierabend machen, ich bin am Wochenende in Greetsiel. Jahrestagung unserer Männergruppe“

„Koch mal Artischocken für die Jungs, ist gut für die Leber.“

„Ich werde Dich vermissen, meine kleine Ziege… Lieblingsziege.“

„Mäh, mäh, mäh.

 

Das Wochenende gestaltete sich einfach wundervoll. Manni hatte Kartoffelsuppe mit Krabben gemacht und Marc seine wundervollen Lammbuletten. Er hatte sexuelle Beziehungen zu einer übergebliebenen Landkommune, die ihren vegetarischen Ansatz aufgegeben hatten und nun alles verarbeiteten was vom Schaf zu verwerten war. Dazu gab es einen wahnsinnig leckeren Kartoffel-Möhren-Sellerie-Brei. Den Nachtisch hatte diesmal Freddy vorbereitet. Ostfriesisches Zuckerbrot mit Butter, Ziegenfrischkäse aus Greetsiel und Blaubeermarmelade. Nun kam der Dörgeneite auf den Tisch, diese unglaubliche Mischung aus geheim gehaltenen Kräutern, die es nur in einer kleinen Kneipe in der Nähe von Oldenburg gab. Aschenbrenner kannte den Wirt gut. Dieser gab den Kräuterschnaps nur an gute Freunde ab. Einen Dörgeneiten zu trinken, war nur einer kleinen Gruppe von Auserwählten vorbehalten. Zur mitternächtlichen Stunde griff Freddy zu seiner Gitarre. Sie gröhlten, tranken und gröhlten bis jemand an ihr Boot klopfte und damit drohte, die Polizei zu rufen. Der Klopfer konnte nicht sehen, wie sehr die Vier sich quälen mussten, um nicht laut loszulachen. Sie tranken noch zwei, drei, vier, fünf  Schlenderschluck und legten sich dann ab. Erst gegen Abend des nächsten Tages machten sie das Boot klar und schipperten wieder einmal durch das Greetsieler Tief, weil so ein wenig Bewegung nach einer durchzechten Nacht ja nicht schaden kann.

Auf der Rückfahrt erzählte Freddy, dass einer seiner Klienten aus einer Wohngruppe für junge Erwachsene spurlos verschwunden sei und dass die Polizei schlicht und einfach davon ausgeht, dass der schon irgendwo wieder auftaucht.

„Jedes Jahr werden 100.000 Menschen als vermisst gemeldet“, sagte Aschenbrenner. „80 000 sind schnell wieder da“.

„Und was ist mit den anderen 20 000“ fragte Manni, „Schwund oder was?“  „Ach was, sagte Marc und verteile eine Runde Jever Pils,  „die werden irgendwo untertauchen, ein neues Weib haben und kein Bock auf Scheidung, Alimente, Unterhalt und so weiter und so weiter.“

„Alles richtig, aber die, die tatsächlich ermordet werden und nie wieder auftauchen?“ Aschenbrenner dachte zurück an die Streuwiese hinter dem Krematorium. „Eine Leiche für immer verschwinden zu lassen ist nicht so einfach wie ihr Laien Euch das vorstellt“, sagte Aschenbrenner. „Im Allgemeinen geben sich Mörder auch nicht so recht viel Mühe damit. Macht die Arbeit für uns umso leichter ...“

 

Was soll ein Kommissar tun, wenn nichts zu tun ist? Alte Fälle aufarbeiten? Schreibkram erledigen? Gerichtstermine wahrnehmen? Selber für Arbeit sorgen? Im gewissen Sinne war das so. „Wer keine Arbeit hat, der macht sich welche, aber dafür war Ralf Aschenbrenner schließlich ja nicht Kommissar geworden.

„Manu komm, wir haben Freigang.“

„Was hast Du vor?“

„Wir hatten lange keine Leiche mehr. Wir können ja mal der Streuwiese einen Besuch abstatten. Nur so aus Interesse, zu Fortbildungszwecken. Wir sind schließlich gehalten unsere freie Zeit in Weiterbildung zu investieren.

Sie gaben sich als Ehepaar aus und waren auf der Suche nach einem Beerdigungsinstitut für Manus angeblich schwerkranken Vater. Sie wollten vorbereitet sein und die Preise vergleichen. Sie unterhielten sich über die diversen Dienstleistungen des Unternehmens von der Traueranzeige über die Ausgestaltung mit Blumen und Kerzen, Musikwünsche, Meldungen an die Versicherung usw.usw. Wer genug Geld hatte, oder genug Geld erbte, der brauchte sich kaum um etwas zu kümmern. Sie wurden durch die Hallen geführt und kamen auch ins Krematorium. Der Bestatter vermittelte professionelles Einfühlungsvermögen und besaß die Fähigkeit, den Menschen die Angst vor der Konfrontation mit dem Tod zu nehmen. Sie ließen sich nacheinander den Weg zur Toilette zeigen, sahen wie aus Versehen in mehrere Räume, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie fragten nach Urnen, nach Streuwiese, nach Grabsteinen. Nach Beisetzungen im „Friedwald“ und nach Diamantisierungen. Sie fragten nach den Formalitäten, von denen es ja gerade in Deutschland nicht wenig gibt. Sie verabschiedeten sich freundlich, nahmen einige bunte Prospekte mit und fuhren dann wieder ins Büro. „Glaubst Du wirklich in diesem Institut stimmt was nicht?“  „ Ich weiß nicht, es gibt einen Toten, für den keine Trauerfeier stattgefunden hat. Jedes Jahr verschwinden 20 000 Menschen, die nicht wieder auftauchen. Wo bleiben die?“

„Du meinst, so ein Krematorium könnte die nebenbei entsorgen? Schwarzarbeit sozusagen."

„Wäre doch möglich, wir müssten mal überlegen, wie man das herausfinden kann und wenn es das noch nicht gibt, ist es doch eine gute Geschäftsidee, oder?“

Aschenbrenner und Borchers hatten längst ihre Unterhaltung in ein thailändisches Restaurant verlegt. Sie aßen „Fingerfood Teler fur 2 Person“. Sie diskutierten immer noch. Tatortbeobachtung, DNA-Proben, Hausdurchsuchung, Finanzüberprüfung, Steuerprüfung, das gesamte kriminalistische Programm. Als die flambierte Nachspeise am Nebentisch serviert wurde hatte Aschenbrenner eine Idee. „Wenn eine Leiche verbrannt wird dauert das ungefähr 70 Minuten. Dadurch steigt der Stromverbrauch logischerweise massiv in die Höhe. Man müsste also nachweisen können, dass neben den legalen Einäscherungen, die durch eine unglaubliche Vielzahl von Bestimmungen genau geregelt sind, auch illegale Einäscherungen stattfinden.

„Muss ja“, sagte Manu. „Muss ja auch nachweisbar sein. Also ich frag mal Marc. Der ist doch bei der RWE, die müssen doch genau aufgechlüsselte Nachweise haben.“

„Und wie wissen wir, welcher Energiestoß legal und welcher illegal ist?“

„Tja, Du könntest beim Finanzamt fragen, wie viele Trauerfälle und wie viel Einäscherungen abgerechnet werden und ob sich da in der letzten Zeit etwas geändert hat. Du fragst ebenfalls nach den Auflistungen der letzten Jahre.“

Sie tranken einen letzten Averna, auch wenn das nicht unbedingt zur thailändischen Küche gehörte und waren sich völlig einig darin, dass man kriminalistische Probleme am besten bei gutem Essen und einem guten Wein lösen könne. Ralf Aschenbrenner versprach den Antrag zu stellen, genau in dieser Essnische ein Büro einrichten zu dürfen.

Die Auswertung aller Unterlagen kostete etwas Mühe. Sie waren jetzt so weit, dass sie wussten, der Stromverbrauch war in den letzten zwei Jahren signifikant angestiegen, die Zahl der Einäscherungen war geringfügig zurückgegangen. Sie gingen mit dem Material zur Staatsanwaltschaft und baten darum eine kleine Ermittlungsgruppe einrichten zu dürfen, um das Krematorium überwachen zu können. Wir müssen wissen, wie das vor sich geht.

Schon kurz nach Beginn der Observierung hatten sie Glück. Die letzte Putzfrau hatte gerade das Gebäude verlassen, als eine schwarze Limousine vorfuhr. Die Limousine war zum Bestattungsfahrzeug umgebaut worden und hatte vermutlich schon einige Hundertausend km auf dem Buckel. Zwei Männer stiegen aus und schoben den Sarg auf einem Gestell in das Beerdigungsinstitut. Manu rief ihren Freund von der RWE an. Der konnte sich zu Hause in das Programm einloggen und bequem den Energieverbrauch kontrollieren. Es dauerte nicht lange, da meldete er ein positives Ergebnis.

„Wollen wir zugreifen?“ fragte Manu Borchers.

„Nein, ich will sicher gehen, dass wir auch herausbekommen, wo die Leichen herkommen. Sie können immer behaupten, dass es sich bei dieser Leiche um einen Notfall handelt, der schnell erledigt werden musste. Wir müssen so lange observieren, bis wir dem Leichenwagen folgen können, wenn er ausfährt, um eine neue Lieferung zu holen.“ 

Sie bereiteten alles gründlich vor. Es standen genügend Fahrzeuge mit verschiedenen Kennzeichen zur Verfügung. Jeder Leichenwagen wurde verfolgt. Blieb er in der Stadt und fuhr zur Geschäftszeit wieder zurück, wurde das im Protokoll festgehalten und abgehakt. An einem Freitag war es so weit. Die schwarze umgebaute Limousine fuhr auf die Autobahn in Richtung Hamburg. Sie konnten genügend Abstand halten, ohne den auffälligen Wagen aus dem Auge zu verlieren. Direkt nach dem Elbtunnel fuhr der Wagen in nördliche Richtung von der Autobahn. Sie forderten bei der Hamburger Polizei Amtshilfe an und ließen einen Polizeiwagen in Bereitschaft halten. Der Wagen hielt vor einer großen Arztpraxis. Die beiden Männer stiegen am Hintereingang aus und schoben einen Sarg auf die Tür zu, die sich, ohne dass sie klingeln mussten, öffnete. Aschenbrenner gab den Hamburger Kollegen die Adresse durch und wartete. Die Tür öffnete sich wieder. Es erschienen die beiden Männer mit dem Sarg. Aschenbrenner ging langsam los. Manu Borchers gab Befehle an die übrigen Kollegen. Aschenbrenner ging durch Tür in den Flur. Sofort kam ihm ein Mann entgegen und verwehrte ihm den Zutritt. In diesem Moment kam eine Wagenladung voll Polizisten um die Ecke und nahmen die Situation unter ihre Kontrolle. Aschenbrenner drang weiter ins Haus ein. Im Keller befanden sich zwei weitere Männer, die gerade den sich dort befindlichen Operationssaal wieder herrichteten. Er hatte voll ins Schwarze getroffen. Im Sarg fanden sie eine junge Frau, ohne Leber, ohne Nieren und ohne Herz. Die Organe waren schon abgeholt worden. Es gab keinerlei Spuren, die auf die Weiterverwendung hindeuteten. Es gab keine Aufzeichnungen, keine Unterlagen, keine Akten, nichts. In Asche lässt sich keine DNA mehr feststellen. Die Streuwiese half nicht mehr weiter. Niemand wusste, ob nicht auch auf anderen Wegen Asche entsorgt worden war. Zur gleichen Zeit verhaftete die Polizei in Oldenburg den Besitzer und die Angestellten des Beerdigungsinstituts. Ob sonst noch jemand von dem lukrativen Zusatzgeschäft wusste, ließ sich nicht nachweisen.

Manu Borchers und Ralf Aschenbrenner saßen vor dem Forian. Es war Herbst, wunderschöner Herbst. Der Klimawandel hat ja auch seine positiven Seiten. „Der Besitzer des Beerdigungsinstituts hat ausgesagt, eine ihm sehr nahestehende Person hätte auf diesem Weg eine Spenderniere bekommen. So sei er in dieses Geschäft hineingerutscht. Weitere Angaben werde er nicht machen. Dass irgendeiner der Angeklagten ein Geständnis ablegt, das kannst Du vergessen. Die haben sehr ausgezeichnete Anwälte, so welche, die sie sich von ihrem Gehalt mit Sicherheit nicht leisten können. Noch einen Averna?“

 

 

Kriegsbeute                                                                    Eckard Klages

 

Das Zimmer war abgedunkelt. Wenn sich die Augen an das Licht gewöhnt hatten,  war  zu sehen, dass es sich um eine einfache Zimmereinrichtung handelte. Ein Schrank,  zwei Stühle, ein Tisch und ein Sofa. An der Wand hing ein großes Bild. In dem Dämmerlicht waren kaum Konturen des Bildes zu erkennen. Die Vorhänge waren zugezogen. Auf dem Sofa lag ein alter Mann. Er schien zu schlafen.  Eine Uhr tickte leise. Das Zimmer lag im 11. Stock eines hässlichen Hochhauses. Wer aus dem Fenster sah, blickte auf den träge dahinfließenden Dnipro, der sich wie eine Schlange durch die Stadt zog.

Die Frau des alten Mannes war schon lange nicht mehr an seiner Seite. Sie war vor vielen Jahren gestorben. Trotzdem lebte er so, als wenn sie noch bei ihm wäre. Er sprach mit ihr, er stellte ihr Fragen und beantwortete sie in ihrem Sinne selbst. Er hatte die 80 weit überschritten und hielt nicht viel davon, dass so viele Menschen am liebsten unsterblich wären. Es war ihm bewusst, dass seine Zeit  zu Ende ging und er wollte es auch so. Es gab  nicht mehr viel, wofür es sich für ihn lohnte weiterzuleben und jeden Tag die Schmerzen zu ertragen, die er schon hatte, wenn er nur die Dinge des Alltags erledigen wollte. Meistens schlief er oder dämmerte vor sich hin.

 

Es klingelte an der Tür. Er hob den Kopf, stand aber nicht auf. Die paar Menschen, die noch zu Besuch kamen, wussten wo der Schlüssel zu finden war und wie man in seine Wohnung kam. Auf anderen Besuch legte er keinen Wert mehr. Er richtete sich etwas auf. Es klopfte an der Tür. Er rief: „Ja!“, die Tür öffnete sich und Maria trat herein. Maria, eine ehemalige Deutschschülerin, mit der er seit vielen Jahren ein besonders herzliches Verhältnis hatte. Sie begrüßte den alten Mann und streichelte über seinen Kopf. Dann machte sie die Vorhänge auf, stellte die beiden Fenster auf Kipp und zündete eine Kerze an. „Wie geht es Dir“?

„Ach“, sagte er, „gut, mir geht es gut. Was soll ich schon sagen? Und Dir, wie geht es Dir? Was machst Du? Bist Du noch in Deutschland?“

„Ja, ich habe immer noch meine Job in der Betreuung von Spätaussiedlern.  Ist nicht leicht. Sind schwierige Leute dabei, aber es macht Spaß. Mein Studium habe ich bald fertig. Sie helfen mir viel, wohl weil ich schon älter bin. Es ist gut in Deutschland und leicht ist es nirgendwo.

Ich freue mich, dass ich Dich wiedersehe. Du überlebst mich bestimmt noch mal und wer besucht Dich dann, ich muss mir richtig Sorgen machen.“

 

„Ach Maria“, ein stilles Lächeln war in seinem Gesicht zu sehen, „Du kommst nur einmal im Jahr nach Kiew und trotzdem, Du schenkst mir so viel Freude. Was haben wir schon für schöne Stunden miteinander gehabt.

Sie legte den Kopf für einen langen Moment an seine Schulter, nahm dann seine Hand und hielt sie fest. Sie sprachen lange kein Wort.

„Mein Herz schlägt immer langsamer. Ich spüre, wie meine Kraft jeden Tag  nachlässt. Manchmal hört es einen Moment auf zu schlagen. Alles ist ruhig und ich denke, das ist jetzt der Tod. Ich muss jetzt gehen. Dann setzt es wieder ein. Es ist ein Gedanke, der mich nicht sterben lässt. Ich , ich …“ Es fiel ihm offensichtlich schwer einen Anfang zu finden.  Es war zu sehen, dass ihn etwas sehr bedrückte. „Maria, ich muss noch etwas erledigen … Sieh mal dort hinter der Schrankecke, dort steht ein Koffer, kannst du ihn mal holen und öffnen.

Maria öffnete den Koffer und fand darin ein Akkordeon. „Es ist schön und bestimmt sehr alt. Was ist mit dem Akkordeon? Ich wusste gar nicht, dass Du ein Instrument spielst.“

„Nein, spiele ich auch nicht.“ Unvermittelt begann er zu erzählen. „Ich war im Krieg Soldat der Roten Armee. Wir gehörten zu einer Gruppe, die Berlin eingenommen hat.

Nach langen Kämpfen, nach 6 Jahren Krieg, war mit einem Schlag plötzlich alles vorbei. Waren wir Sieger? Ich fühlte mich nicht so. Ich hatte alles verloren, meine Eltern, meine Geschwister. Das bisschen, was wir besessen hatten, war vernichtet. Wenn meine Kameraden davon sprachen nach Hause zu fahren, dann war in mir nur Verzweiflung, Hass auf den Krieg, auf die, die ihn begonnen hatten. Hass auf die Deutschen, die Schuld waren an allem, was ich erlebt habe, was ich aushalten musste. Ich hatte eine Menge von ihnen getötet. Es war Krieg. Mein Hass, meine Wut hatten mich zu einem guten Soldaten gemacht. Nach dem ich wusste, dass meine Familie ausgelöscht war, hing ich nicht mehr an meinem Leben. Ich spürte keine Angst mehr vor dem Tod – im Gegenteil, ich erwartete ihn jeden Tag. Wie schnell es vorbei sein konnte, hatte ich oft genug erlebt. Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen, war mutig und draufgängerisch und überlebte.

Wir liefen durch Berlin. In einer Straße trafen wir auf einen Deutschen, der dort mit seinem Akkordeon stand. Er hörte auf zu spielen, als er uns sah. Ich sagte: „Spiel!“ Er nahm sein Akkordeon ab und packte es ruhig in seinen Koffer. Ich sagte wieder: „Spiel! Er reagierte nicht.“ Ich hatte meine Waffe von der Schulter genommen und entsichert. Er sagte: „Meine Quetschkommode spielt nicht für Euch!“

In mir stieg eine wahnsinnige Wut hoch. Sie, die Deutschen, die Schuld waren an allem Übel in der Welt,  verweigerten mir einen kleinen Gefallen? Ein kleines Lied? Ich hob mein Gewehr, forderte ihn ein letztes Mal auf zu spielen, er weigerte sich, dann habe ich ihn erschossen.

Sein letzter Blick war erstaunt, ungläubig. Er hatte gerade den Krieg überlebt und das war jetzt sein Ende?

Ich nahm seinen Akkordeonkoffer und ging. Offiziell hatte er Widerstand gegen die Rote Armee geleistet. Es war in diesen Tagen kein Problem jemand zu erschießen, wir hatten zu viele Jahre nichts anderes gemacht. Wir waren die Sieger. Wir waren im  Recht.

Ich habe mir das Instrument über die Schulter gehängt. Kriegsbeute!

Wie oft ich auch nach dem Krieg umgezogen bin, ich habe es immer mitgenommen. Es hat nie jemand darauf gespielt. Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass ich den Mann ermordet habe. Auch wenn wir uns in einer schwierigen Situation befanden. Ich habe immer wieder und immer wieder darüber nachgedacht. Warum wollte er nicht für uns spielen? War er ein Nazi der uns Russen hasste? Warum hasste er uns? Hatte auch er seine Familie verloren? Warum habe ich nicht länger mit ihm gesprochen? Ich konnte genug Deutsch.  Warum erschieße ich einen Mann, nur weil er für mich keine Musik machen will? Ich fühle mich http://www.duden.de/news.php?mid=93schuldig. Zu was macht der Krieg uns fähig? Was war ich für ein Mensch? Ich habe nie mit jemanden darüber gesprochen. Du bist die erste. Nicht mal meine Frau hat gewusst, warum ich das Akkordeon mitgeschleppt habe. Ich habe immer gesagt:

“Erinnerung an Deutschland!“ Da wo ich jetzt hingehe kann ich es nicht mitnehmen. Kannst Du das Akkordeon mit nach Deutschland nehmen und es irgendjemand schenken, der schön darauf spielen kann und den Menschen die Freude geben kann, die ich den Deutschen damals genommen habe?

Es nimmt mir nicht meine Schuld, aber es würde mich erleichtern.“

Maria umarmte den alten Mann. Sie weinten lange Zeit. Dann stand sie auf und nahm das Akkordeon. Sie sahen sich an, ohne ein Wort zu sagen. Es war einfach nicht nötig. Noch einmal nahm sie seine Hand. Sie wussten, dass sie sich nicht wiedersehen würden. Dann ging Maria. Erschöpfung aber auch Erleichterung konnte man in dem Gesicht des alten Mannes sehen. Er schlief.

 

 

 

 

Ohne Motiv                                                                  Eckard Klages

 

Sie saßen im Schwan, in einer gemütlichen Ecke. Es gab Cocktails zum halben Preis. Ufo und Bernd stießen gerade mit dem 4. Cocktail an, sie hatten sich immer wieder eine andere Mixtur bestellt, es ging ihnen ja nicht nur um das Trinken, nein, es ging vor allem auch darum sich fortzubilden, denn schließlich wollten sie eines Tages einmal ihr eigenes Kneipenprojekt realisieren. Das nötige philosophische Grundwissen zur Führung von Kneipengesprächen hatten sie sich indes in den vielen Jahren ihrer Freundschaft längst erworben.

 

„Wie sich ein Mensch wohl fühlt, in dem Augenblick, in dem er jemanden umbringt, ein Mörder, ein Henker, ein Soldat, ganz gleich wer? Ich habe früher einmal lange darüber nachgedacht. Ich glaube, wer sich an ein festes Regelwerk hält, ist durchaus in der Lage einen Menschen zu töten, ohne überführt zu werden“, Ufo stellte gern Fragen wie diese in den Raum und Bernds Lieblingsbeschäftigung bestand darin, solche Fragen wissenschaftlich fundiert genauestens zu beantworten. Man hat ja schließlich nicht umsonst studiert.

„Ufo, die meisten Menschen, die einen anderen umbringen, tun das aus einem nachvollziehbaren Grund. Von daher sucht die Kripo zuallererst nach einem Motiv für die Tat und hat damit häufig auch schon den Täter.

Wer eine hohe Lebensversicherung auf die eigenen Frau abschließt, dieselbe umbringt und die Geliebte womöglich noch als Alibi benutzt, muss ja nicht ernsthaft glauben, er würde nicht erwischt werden, nur weil er so ganz besonders geschickt vorgeht. Im Gegenteil, so einer muss gut aufpassen, dass keiner seiner Alten etwas antut, da er in so einem Fall immer zu den Hauptverdächtigen gehört.

Letzte Woche z.B. ist in Wilhelmshaven eine Frau ermordet worden. Sie lebte mit einem türkischen Mann zusammen und hatte einen schwarzen Liebhaber. Das langweilt doch jeden noch so lausigen Kommissar und ich will es dir nicht vorenthalten, der türkische Freund war doch tatsächlich der Täter. Sexualmörder hinterlassen logischerweise Spuren, sind meist krankhafte Wiederholungstäter und werden zwangsläufig irgendwann erwischt.“

Dr. Bernd Breitscheidt ist in seinem Element, vom Cocktail  beflügelt hat er seinen einzigen vermeintlichen Zuhörer längst aus den Augen verloren und fühlt sich in einen Hörsaal versetzt. Er hält eine grandiose, kriminalistische Vorlesung über die diversen Tätertypen in der Schwerkriminalität und die überwiegend einfachen Motive, aus denen sie ihre Taten begehen.

Ufo ließ den Redeschwall über sich ergehen. Bernd zu unterbrechen war schier unmöglich, er reagierte dann böse wie ein Dorfschullehrer in den 50er Jahren, der von bildungsunwilligen Kindern daran gehindert wurde sein gesammeltes Wissen unter das Volk zu verschleudern. So blickte sich Ufo, nur halb lauschend, nach diversen Frauen um und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, wenn sie sich auf ihm ihrer Lust hingeben würden. Nach einem weiteren Caipirinha setzte Bernd zur Quintessenz seiner Vorlesung an:

„Es gibt nur eine Möglichkeit einen Mord zu begehen und die Chance der Überführung annähernd auszuschließen. Du darfst für deine Tat absolut kein nachvollziehbares Motiv haben. Zwischen ihm und dir darf keinerlei Beziehung hergestellt werden können.“

Dr. Bernd Breitscheid, Soziologe ohne berufsspezifische Beschäftigung, war am Ende seiner Vorlesung angekommen. Er lehnte sich befriedigt zurück und zog lange und bedächtig an seinem Strohhalm. Sein Blick wanderte vom Ausschnitt zu den Augen einer dunkelhaarigen Schönen, die sich schnell wieder abwandte, als sie den notgeilen Blick des Mannes wahrnahm, von dem sie gerade noch gedacht hatte: „Mein Gott, wo haben sie denn den rausgelassen?“ 

Ufo hatte den letzten Sätzen von Bernd wieder konzentriert zugehört. Er konnte schon an der Stimmlage hören, wenn Bernd das Finale einläutete.

Er bestellte zwei weitere Cocktails, diesmal „Cuba Libre“,  und ging dann leicht torkelnd zur Toilette.

 

Dass Ufo wirklich Ufo mit Vornamen heißt, wissen nicht mal seine Freunde. Alle halten das für seinen Spitznamen. Ufo kommt „von Aurich weg“, wie er immer zu sagen pflegt. Von den vielen Studiengängen, die die Universität Oldenburg anbietet, hat er etliche ausprobiert. Soziologie, Philosophie, Psychologie - schließlich dann Lehramt mit den Fächern Arbeit Wirtschaft und Politik. Interessant, nicht ganz so arbeitsintensiv, aber selbst in Phasen des Lehrermangels völlig ohne Perspektive.  Einige Semester waren auch einfach so an ihm vorbeigegangen, mehr als die Mensa hatte er von der Uni nicht gesehen.

 

Seit langer Zeit beschäftigte er sich mit Selbsterfahrung und Therapie, Wochenendseminaren auf Spiekeroog, Töpfern in Ostfriesland, Steinhauerei in der Toskana und Entspannungsseminare unter dem Motto: ´Ich bin ruhig, ganz ruhig ….´

Zwei zusätzliche Therapiegruppen in Oldenburg gaben seinem Leben Struktur und Sinn. Nebenbei bereitete Ufo sich auf die Heilpraktikerprüfung mit dem Schwerpunkt Psychologie vor und war dabei mit seinem Freund Bernd das Kneipenprojekt endlich in die Tat umzusetzen. Nichts Großes, aber gemütlich und beschaulich sollte es sein, eher alternativ-familiär, möglichst dicht in der Nähe der Uni. Ufo lebte allein.

Die wenigen Wohngemeinschaftserfahrungen, die er gemacht hatte, hatten ihn darin bestärkt, dass diese Lebensform extrem rigide und persönlichkeitszerstörend ist. Es lief immer darauf hinaus, dass sich in äußerst kurzer Zeit eine Psychodynamik entwickelte, die ihn dazu bringen sollte, sich an einen Putzplan, einen Einkaufsplan, einen Aufräumplan, einen Was-weiß-ich-nicht-noch-Plan zu halten. Für Ufo, der am liebsten keinen Plan hatte, war das keine Alternative zu seinem Single-Haushalt. Eine feste Beziehung, die ihm nicht nur seine Wohnung und seinen Lebensrhythmus, sondern womöglich auch noch seine gesamte Persönlichkeit durcheinander bringen könnte, kam noch weniger in Frage als eine WG. Von den Einnahmen aus einer kleinen Ferienwohnung auf Norderney, die er geerbt hatte, konnte er zumindest auf studentischem Niveau ganz gut leben und ansonsten jobbte er in Kneipen, auf dem Stadtfest oder in der Weser-Ems-Halle. Beziehungen gehörten für ihn eher in den Bereich der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigungen, häufig mit Frauen, die ebenfalls einen geballten Haufen ungelöster Probleme mit sich herumtrugen. Er war immer auf der Suche nach neuen, gern auch ausgefallenen Erfahrungen.

 

Die Nacht war wie geschaffen für eine dunkle Tat. Nur ein Wagen stand noch auf dem Parkplatz der Kneipe. Es war spät geworden. Die Kneipe lag nicht weit vom Bahnhof entfernt in einer Gegend, in der kaum Menschen wohnten. Sein Fahrrad stand in Richtung Fluchtweg. Abfahrbereit. Der Typ kam, wie erwartet, allein die Treppe herunter und ging auf Ufo zu, der seinen Platz so gewählt hatte, dass er dicht an dem letzten dort parkenden PKW stand. Er hatte in der einen Hand seinen Autoschlüssel und in der anderen Hand seine Tasche. Ufo schlug mit aller Kraft mit einem schweren Hammer zu und sah, wie der Mann auf der Stelle zusammenbrach und mit weit aufgerissenen Augen verdreht zwischen dem PKW und Ufos Füßen lag.

Er sah den Mann an, der unzweifelhaft tot war. Er prägte sich das Bild fest ein, um es immer präsent haben zu können. Er spürte dem Gefühl nach, was er in diesem Moment empfand, um auch das noch möglichst lange erinnern zu können. Dann sprang er auf sein Fahrrad und fuhr davon, ohne in ein der Nachtzeit unangemessenes Tempo zu verfallen.

Den Hammer, seine Handschuhe, seine Hose und seine Schuhe steckte er am anderen Morgen in den Mülleimer und wartete bis die Müllabfuhr diesen vor seinen Augen in den großen Mülltrommelwagen entleerte. Er putzte sein Fahrrad und spritzte es in der Autowaschanlage lang anhaltend mit dem Wasserschlauch ab. Bernd hatte recht, es konnte ihm nichts passieren. Für seine Tat gab es kein nachvollziehbares Motiv.

Dann ging er ins Bett und schlief erschöpft ein. Er wurde wach, weil er fror. Er zitterte. Angst und Panik überfielen ihn. Er nahm einen großen Schluck aus einer Wodkaflasche und legte sich wieder hin. Irgendwann schlief er wieder ein, wachte aber durch seinen eigenen Schrei wieder auf, einen Schrei, der das Ende eines Albtraums war.

Die folgenden Tage verbrachte er in seiner Wohnung. Er lief unruhig hin und her, lebte von Wodka, Aspirin, Fertigpizza und Dosenfisch.

Er hörte Nachrichten und wusste, dass die Polizei keinerlei Anhaltspunkte hatte.

 

Wenn er seine ganze Kraft zusammennahm, konnte er für kurze Zeit die Wohnung verlassen. Eine Polizeisirene, ein Blaulicht oder  ein Streifenwagen lösten eine furchtbare Panik in ihm aus und er war froh, wenn er wieder in seiner Wohnung war. Die Nächte waren fürchterlich. Er schlief selten länger als zwei Stunden und das auch nur mit der Hilfe von reichlich Wodka gemischt mit Schlaftabletten. Tagsüber lauschte er den Geräuschen im Haus nach. Kam jemand die Treppe hoch oder ging jemand die Treppe hinunter, hielt er den Atem an. Seine furchtbaren Albträume verließen ihn keine Nacht. Immer sah er zum Schluss das Antlitz des Toten langsam auf sich zukommen, es wurde größer und größer. Kurz bevor es ihn traf, erwachte er mit einem lauten Schrei.

Immer wieder ging er alle Fakten durch. Hatte er wirklich keinen Fehler gemacht? Nichts übersehen? Er hatte eine unglaubliche Angst, dass plötzlich die Polizei vor der Tür stehen könnte und das nur, weil er vielleicht einen dusseligen Fehler gemacht hatte. Jeder Schritt im Treppenhaus löste neue Panik in ihm aus. Einmal entlud sich seine Anspannung in einem nicht mehr kontrollierbaren Schrei. Er hatte Angst jemand könnte ihn hören. Er legte `In-A-Gadda-Da-Vida´ ein, stellte die Anlage laut und drückte die Repeat-Taste.

 

Es klingelte an der Tür. Ufos Herz raste noch schneller, ihm wurde schlecht, seine Hände zitterten. Es klingelte wieder. Sein vegetatives Nervensystem chaotisierte ihn vollends. Ein Schweißausbruch zwang ihn fast in seine ohnehin schon weichen Knie. „Machen Sie auf, hier ist die Polizei!“ Langsam sank Ufo aufs Sofa und kippte dann auf die Erde. Er krümmte sich vor Schmerzen. Wieder brach ein Schrei aus ihm heraus: „Neiiiiiiiiiiiin!“

„Sie haben Besuch“, sagte der freundliche Pfleger, „ein Herr Breitscheidt möchte mit Ihnen sprechen, möchten Sie ihn empfangen?“

Bernd schob sich durch die Tür. „Ich habe gegenüber in der Kneipe zwei Pils für uns bestellt, kommst du? Spaß beiseite, was ist los mit Dir, Alter? Wegen so einem bisschen ruhestörenden Lärm musst Du doch nicht gleich so ausrasten.“ Ufo antwortete nicht, griff sich die Obstschale und sprang auf Dr. Bernd Breidscheidt zu, mit verzerrtem Gesicht holte er aus und schlug damit auf Breidscheidts Schädel. Der verdrehte die Augen und brach unter dem Schlag zusammen. Der Pfleger riss Ufo die Schale aus den Händen, Ufo sprang zu Bernd, würgte den leblosen Körper mit seinen Händen und begann zu schreien: „Tot, macht ihn tot, er ist böse, er sendet negative Strahlen.“

Ein zweiter Pfleger war herbeigeeilt und hatte Ufo eine Spritze verpasst. „Gleich wird es Ihnen besser gehen, Sie werden ruhig, ganz ruhig ….“

 

Kaluga surprise                                   Eckard Klages

 

Die Sonne kündigte den neuen Tag mit einem roten Streifen am Horizont an. Christian hatte mit der Zimmerwahl Glück gehabt, er konnte von seinem Hotelbett aus zusehen, wie die Sonne über dem Meer aufging. Er verließ das Bett, zog seine Badesachen an, ging die Stufen zum Strand hinunter, legte das Handtuch und den Bademantel auf eine Liege und watete langsam ins Wasser, um auf das Meer hinauszuschwimmen. Er war ein geübter Schwimmer und hatte als Ziel eine aus dem Wasser herausragende Klippe gewählt, die etwa 500 Meter vom Strand entfernt war, er umkreiste die Klippe im weiten Bogen und schwamm ruhig und entspannt zurück. Ein Paar kam die Steinstufen herunter und schritt an ihm vorbei, um ebenfalls eine Runde zu schwimmen. Sie lächelten ihm zu, grüßten freundlich, stiegen ins Wasser und schwammen ebenfalls hinaus. Nachdenklich sah Christian ihnen nach, stellte sich vor, wie das wäre, selbst in einer solchen Partnerschaft zu leben. Vielleicht in einigen Monaten, dachte er, wenn ich mir klarer darüber bin, wie die Zukunft für mich aussehen soll.

Im Hotel wohnten viele Paare, zum Teil mit Kindern und auch einige alleinstehende Frauen. Für die musste er wohl wie ein verspäteter Prinz auf einem angegrauten Schimmel wirken. Wenn er zum Frühstücksbüfett ging, erhoben sich ganz zufällig einige von ihnen, folgten ihm und versuchten, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Er sah gut aus, wirkte entspannt und offen, kleidete sich sportlich und leger. Es verschaffte ihm ein entspanntes Gefühl, nicht mehr permanent in Anzug und Krawatte herumlaufen zu müssen. Beim Blick in den Spiegel musste er sich selbst noch daran gewöhnen, dass er dabei war, seine perfekt antrainierten Rollen abzustreifen.

Dieser Urlaub war seit einigen Jahren sein großer Traum gewesen. Zu Ostern, wenn es zu Hause noch nass und kalt war, auf einer herrlichen Terrasse sitzen, trockenen Rotwein trinken und sich von der Sonne die Kälte des Winters aus den Gliedern treiben lassen, ohne einen Gedanken an den Job zu verlieren. Diese Vorstellung wollte er jetzt realisieren. Er wunderte sich über sich selbst, dass er kaum an seine Jahrzehnte währende Tätigkeit in der Rüstungsindustrie zurückdachte. In all den Jahren, in denen er durch die Welt gereist war, war er nur sehr selten so entspannt gewesen.

Seine Fitness war ihm wichtig. Wenn im Programm seiner Verhandlungspartner sportliche Events angeboten wurden, dann wurden sie von Christian gerne angenommen. Es gab kaum eine Trendsportart, die er nicht irgendwann einmal ausprobiert hatte. Dass Sport weiterhin ein wesentlicher Teil seines Lebens sein sollte, darüber musste er nicht nachdenken, aber sonst wollte er viel in seinem Leben ändern. Die Zeit hier am Meer wollte er dazu nutzen, um seinen nächsten Lebensabschnitt zu planen. «Wer bin ich und was mache ich hier«, war einer seiner Lieblingssprüche, über die er fröhlich und selbstironisch lachen konnte.

Für diesen Tag hatte er sich zu einer geführten Mountainbike-Tour durch den Naturpark Madonie angemeldet. Das Hotel stellte die Räder zur Verfügung. In einer Gruppe zu fünft fuhren sie durch einen wunderschönen Naturpark mit vielen tollen Aussichten. Die Gruppe bestand aus einem Profifahrer, dem Ehepaar von heute Morgen, Andrea und Bernie, sowie einem weiteren sehr jungen Mann, der offensichtlich hart daran arbeitete, seine Konditionsprobleme zu überwinden. Sie fuhren bis ins Bergdorf Gratteri, um in einer Trattoria eine Mittagspause einzulegen. Gemeinsam hockten sie an einem runden Tisch. Andrea hatte sich mehr oder weniger unauffällig neben Christian gesetzt, er gefiel ihr ganz offensichtlich. Sie zog ihre Jacke aus, öffnete ein paar Knöpfe ihrer Bluse, schloss die Augen und drehte ihr Gesicht zur Sonne. Andrea sah sehr zufrieden aus und strahlte pure Lebenslust aus. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, lächelte ihn an und fragte:

«Wie lange bist du noch hier?» «Ich weiß es noch nicht so ganz genau, vermutlich noch dreieinhalb Wochen», antwortete Christian.

«Was, das ist ja fantastisch, so eine lange Zeit, in einer so schönen Gegend. Wir sind leider nur noch ein paar Tage hier. Willst du noch mehr Touren fahren?»

«Ja, ich wollte schon alle angebotenen Strecken einmal abfahren, aber ich will auch noch Golfspielen und einen Tauchkurs habe ich ebenfalls gebucht. Den ganzen Tag auf der Strandliege herumfaulenzen, das ist nichts für mich und nebenbei will ich ganz viel für meine Fitness tun.»

«Ich habe gesehen, wie du auf uns zu geschwommen bist und wie locker du eben mit dem Mountainbike den Berg heraufgefahren bist. Du bist doch nun wirklich fit, du hast eine tolle Figur und ich glaube, du weißt das auch.» Christian erwiderte grinsend: «Es geht so, aber ich werde ja auch nicht jünger.»

«Nein», lachte Bernie und mischte sich damit in ihr Gespräch ein. «Aber wenn wir so jung bleiben, wie wir uns jetzt fühlen, dann ist alles ‹tutto bene›, wie die Italiener sagen.»

«Genau das ist mein Traum», stimmte Christian zu, «zumindest noch möglichst lange, damit ich noch alles erleben kann, was mir bis jetzt nicht möglich war.»

«Das gefällt mir», sagte Bernie, «ich muss allerdings noch einige Jahre arbeiten, bis ich mir das leisten kann.»

Die Rast auf dem Berg war beendet, sie setzten sich wieder auf die Räder und fuhren den Berg hinab. Christian ließ sich ans Ende der Gruppe fallen und genoss den Blick über das Tyrrhenische Meer. Bernie hatte sich neben ihn geschoben. Beide hatten Spaß an der tollen Abfahrt, die gleichzeitig sehr anspruchsvoll war. In einer Kurve hob Bernie die Hand und hielt an. «Ich muss eben die Sattelstütze nachspannen, du kannst aber auch weiterfahren.» Christian lachte ihn an, nickte mit dem Kopf, blieb aber stehen. «Du machst so eine Tour aber nicht zum ersten Mal, oder? Die Leichtigkeit, mit der du diese Strecke bewältigst, ist schon sehr auffällig.»

«Nein, ich fahre fast täglich mit dem Rad in meine Praxis, ich bin Krankengymnast. Das ist zwar flaches Land bei uns, aber ich fahre täglich etwas mehr als eine Stunde und schon ein sportliches Tempo.»  «Ich war mal auf einer Insel im Norden, weiß aber schon gar nicht mehr, welche das war. Ich weiß aber noch, dass der Wind beim Radfahren immer von vorne kam.»

«Das ist ein nicht zu erklärendes Phänomen. Es steigert die Herausforderung. Dafür geht es selten mal bergauf. Solltest du einmal bei uns an der Nordsee Urlaub machen, können wir ja mal ein paar Deichtouren fahren.» «Das bekomme ich bestimmt hin. Mit einem Eingeborenen als Tourguide kann mir ja nichts passieren.» Sie lachten beide herzlich und stiegen wieder auf ihre Bikes. «Ich glaube, wir müssen jetzt zu den anderen aus der Gruppe aufschließen, bevor eine Suchmeldung rausgeht. Wir können ja nachher noch in der Sonne sitzen und einen Wein trinken.»

Andrea wollte duschen und schlafen. «Ich habe fertig für heute, bin völlig erschöpft. Wir sehen uns hoffentlich beim Abendessen», sagte sie mit schelmischem Blick auf Christian.

Bernie und Christian saßen an einem schönen Platz auf der Terrasse des Hotels. Sie tranken ein leichtes Alster und Bernie sprach über seine Tätigkeiten. Etliche Wochenenden im Jahr verbrachte er damit, Mountainbiker bei Turnieren medizinisch zu betreuen. Er mochte die Atmosphäre bei diesen sportlichen Events und hatte Spaß an der Arbeit mit den Sportlern.

«Und was sagt Andrea zu deinen vielen Aktivitäten?»

«Kein ganz einfaches Thema, aber sie hat für sich einen Weg gefunden, damit klarzukommen. Wir verstehen uns sehr gut und das Zusammenleben klappt hervorragend.

Und du, lebst du mit jemandem zusammen?»

«Nein, ich habe, beruflich bedingt, mehr als 250 Tage im Jahr in Hotels übernachtet. Für Beziehungen war da schlicht und einfach kein Platz. Ich glaube, für die Zukunft kann ich mir das gut vorstellen. Jetzt muss ich mich erst einmal neu sortieren.»

Sie unterhielten sich angeregt, lachten sehr viel und als Andrea kam, aßen sie gemeinsam auf der Terrasse und genossen den tollen Blick auf den hoteleigenen Strand.

Der nächste Tag war zur Erholung tourenfrei. Christian klagte beim Frühstück über Rückenschmerzen. Er hatte den Plan, sich in die Sonne zu legen und gegen Nachmittag nach Cefalu zu laufen.

«Wenn du willst, verpasse ich dir eine Rückenmassage vom Allerfeinsten, du weißt, da bin ich absoluter Fachmann.»

«Wenn ich ehrlich bin, hab ich mir gewünscht, dass du so reagierst», lachte Christian. «Ich glaube, das kann ich heute wirklich gut gebrauchen.»

«Ok, dann in einer halben Stunde bei dir.»

Sie stießen in Christians Appartement mit einem trockenen Nerello Mascalesa vom Fuße des Ätna an, nachdem Bernie das Zimmer betreten hatte. Sie schwiegen eine Zeit lang, nippten ab und zu an ihrem Glas und lächelten sich unsicher an. «Ich würde gerne mal wissen, ob du mit deiner Frau glücklich bist», sagte Christian.

«Du kannst Fragen stellen. Wie gesagt, wir verstehen uns prima, alles klappt wie geschmiert. Aber glücklich?»

Bernie stand auf. «Kann ich mit einer Frau richtig glücklich sein?» Er sah Christian an, der längst verstanden hatte. Christian stand ebenfalls auf. Sie sahen sich wortlos an, nahmen sich in den Arm und blieben lange so stehen. Sie küssten sich und setzten sich auf das Bett. «Ich hab es erst spät begriffen, dass ich auf Männer stehe, da hatte Andrea mich schon geheiratet.» Er lachte über seinen eigenen Spruch. «Ich hätte mich nie getraut, offen mit meiner Homosexualität umzugehen. Ich weiß, dass es heutzutage nicht mehr problematisch ist. Auch bei uns auf dem Land leben viele verheiratete Schwule und werden völlig akzeptiert. Aber ich habe es selbst nicht hinbekommen. Wir haben zwei Kinder, die schon studieren. Andrea und ich leben in einem fest gefügten Rahmen, aus dem ich nicht ausbrechen wollte. Es gab letztlich auch nie jemanden, für den ich das hätte tun wollen. Wie ist das mit dir?»

«Ich wusste schon früh, dass ich schwul bin. Das hat aber nie jemand bemerkt. Wäre es bekannt geworden, hätte ich im Nahen Osten und in vielen Ländern Afrikas, in denen ich ständig zu tun hatte, keine erfolgreichen Verhandlungen mehr führen können. Es gab mal Beziehungen zu Männern, meist nur sehr kurze, eine Reihe von Freundschaften, auch mit Frauen, aber eine wirklich ernsthafte Beziehung hatte ich noch nie. Was ist mit meiner Massage? Mein Rücken schmerzt immer noch.» Bernie lächelte und begann, Christian den Rücken zu massieren. Die Massage wurde immer zärtlicher, bis sie sich gegenseitig massierten und schließlich miteinander schliefen. Sie sahen sich immer wieder an, waren glücklich, diesen Moment erleben zu dürfen.

«Vermisst deine Frau dich nicht schon?» «Nein, Andrea ist mit zwei anderen Frauen aus dem Hotel in ein Keramikdorf gefahren. Ich fürchte für die Rückreise müssen wir einen eigenen Flieger buchen.»

«Ihr fliegt morgen Mittag?» Bernie nickte. «Schade, ich hätte sehr gern noch viel Zeit mit dir hier verbracht.» Wieder nahmen sie sich in den Arm und hielten sich fest. Bernie streichelte Christians Rücken. «Und für meinen Rücken wäre das auch gut!», lachte Christian, auch wenn sein Lachen nicht ganz so fröhlich klang.

«Hast du Lust, mit nach Cefalu zu laufen? Ich brauche dringend Bewegung und will noch ein paar Dinge einkaufen.»

Gemeinsam machten sich auf den Fußweg in die Stadt. Ein wunderschöner Spaziergang durch Hotelanlagen und am Strand entlang mit Blick auf die Stadt Cefalu. Sie liefen durch die Altstadt, warfen einen Blick in die Kathedrale Santissimo Salvatore. «Ich habe einen herrlichen Laden entdeckt, dort werden sizilianische Spezialitäten angeboten. Man kann dort auch köstliche Speisen bekommen und den Wein gleich probieren.» Sie liefen am Strand entlang, um dann den Weg zum Ladenrestaurant einzuschlagen. Sie bestellten eine kleine Vorspeisenplatte und probierten verschiedene sizilianische Weine. «Auf unser Wohl», sagte Bernie. «Auf uns», sagte Christian. «Ich kann nicht beschreiben, wie es mir gerade geht. Obwohl wir uns noch nicht so lange kennen, habe ich das Gefühl, wir passen wahnsinnig gut zusammen. Ich bin fest entschlossen, mich nicht mehr zu verstecken. Ich will endlich so leben, wie ich bin. Aber du, du bist an einer ganz anderen Stelle in deinem Leben, ich kann und will dich nicht zwingen, dich jetzt zu outen, nur weil es gerade gut zu meiner jetzigen Lebenssituation passen würde. Selbst wenn, können wir ja nicht wissen, ob das mit uns wirklich etwas wird, obwohl ich im Moment nichts lieber möchte.»

Bernie sah auf sein Weinglas, trank einen kleinen Schluck und sah Christian an. «Als Andrea mich gefragt hat, wie ich dich finde, hätte ich ihr am liebsten gesagt, dass ich mich in dich verliebt habe. Ich sagte ihr, dass ich noch nie für einen Mann nach so kurzer Zeit eine derartig tiefe Freundschaft empfunden hätte. Der Satz hat mir sofort wehgetan, weil das wieder so eine Lüge war. Das war sonst nicht so. Ich habe, was meine Orientierung anbetrifft, immer leicht und locker gelogen und es hat mir nichts ausgemacht. Ich habe früher auch Schwulenwitze gerissen und sexistische Witze über Frauen erzählt, wenn ich mit den Sportlern unterwegs war. Das ist im Moment alles weg. Ich denke, ich habe viel falsch gemacht. Nie hätte ich mich darauf einlassen sollen, mich selbst zu verleugnen. Ich bin in dich verliebt, bin sehr glücklich und gleichzeitig verzweifelt. Andrea wollte mich damals unbedingt. Es tut mir so leid, dass sie mit einem Mann zusammenlebt, den sie nicht wirklich kennt. Das hat sie nicht verdient.»

«Wir müssen los», sagte Christian, «Andrea möchte mit uns zu Abend essen. Es wäre unfair, sie jetzt warten zu lassen.» Sie gingen schweigend nebeneinander zum Hotel zurück, sahen sich von Zeit zu Zeit an, um sich zu vergewissern, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war.

 

«Ihr glaubt nicht, wie gern ich ebenfalls noch drei Wochen hierbleiben würde», sagte Andrea in die Runde. Sie hatte kurzerhand die beiden Frauen mit an den Tisch gebeten, mit denen sie durch diverse Läden mit sizilianischer Keramik gezogen war. Uta und Tina waren mit dem Ziel in den Urlaub geflogen, sich von ihren Männern und ihren Kindern zu erholen. Sie verbrachten einen lustigen Abend miteinander. Christian und Bernie blieben noch sitzen, als sich die Frauen verabschiedeten.

«Ich möchte, wenn ich aus Sizilien zurück bin, dich für eine Woche nach München einzuladen. Ich habe dort eine Wohnung. Wir könnten viel gemeinsam unternehmen. Hast du Lust? Bekommst du das hin?»

Bernie sah Christian an und nickte entschlossen mit dem Kopf. Er hatte selbst schon überlegt, Christian einen gemeinsamen Urlaub vorzuschlagen. «Es ist gut, wenn wir etwas haben, auf das ich mich freuen kann. Sie beschlossen, das letzte Glas Wein in Christians Appartement zu trinken. Es wurde ein langer und liebevoller Abschied. Andrea schlief tief und fest, als Bernie sich sehr spät in der Nacht zu ihr legte. Bernie schlief lange gar nicht, ließ die Erlebnisse der letzten Tage vor seinem inneren Auge Revue passieren. Glücklich und mit einem Lächeln im Gesicht schlief er ein, als es über dem Meer schon hell wurde.

Auf dem Weg zum Frühstück sah Christian, wie Bernie und Andrea ihr Gepäck in den Transporter des Hotels verstauten. Er ging auf die beiden zu, nahm Andrea fest in den Arm, bedankte sich für die schöne Zeit und wünschte ihr einen guten Heimflug. Dann umarmte er Bernie, der unmittelbar neben seiner Frau und zwei anderen Gästen stand. Dieser zog den Kopf zurück, sah Christian an, grinste frech und gab Christian einen Kuss auf den Mund.

 

 

 

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