Kriegsbeute
Das Zimmer war abgedunkelt. Wenn sich die Augen an das Licht gewöhnt hatten, war zu sehen, dass es sich um eine einfache Zimmereinrichtung handelte. Ein Schrank, zwei Stühle, ein Tisch
und ein Sofa. An der Wand hing ein großes Bild. In dem Dämmerlicht waren kaum Konturen des Bildes zu erkennen. Die Vorhänge waren zugezogen. Auf dem Sofa lag ein alter Mann. Er schien zu
schlafen. Eine Uhr tickte leise. Das Zimmer lag im 11. Stock eines hässlichen Hochhauses. Wer aus dem Fenster sah, blickte auf den träge dahinfließenden Dnipro, der sich wie eine Schlange durch
die Stadt zog.
Die Frau des alten Mannes war schon lange nicht mehr an seiner Seite. Sie war vor vielen Jahren gestorben. Trotzdem lebte er so, als wenn sie noch bei ihm wäre. Er sprach mit ihr, er stellte ihr
Fragen und beantwortete sie in ihrem Sinne selbst. Er hatte die 80 weit überschritten und hielt nicht viel davon, dass so viele Menschen am liebsten unsterblich wären. Es war ihm bewusst, dass seine
Zeit zu Ende ging, und er wollte es auch so. Es gab nicht mehr viel, wofür es sich für ihn lohnte weiterzuleben und jeden Tag die Schmerzen zu ertragen, die er schon hatte, wenn er nur die
Dinge des Alltags erledigen wollte. Meistens schlief er oder dämmerte vor sich hin.
Es klingelte an der Tür. Er hob den Kopf, stand aber nicht auf. Die paar Menschen, die noch zu Besuch kamen, wussten wo der Schlüssel zu finden war und wie man in seine Wohnung kam. Auf anderen
Besuch legte er keinen Wert mehr. Er richtete sich etwas auf. Es klopfte an der Tür. Er rief: “Ja!”, die Tür öffnete sich und Maria trat herein. Maria, eine ehemalige Deutschschülerin, mit der er
seit vielen Jahren ein besonders herzliches Verhältnis hatte. Sie begrüßte den alten Mann und streichelte über seinen Kopf. Dann machte sie die Vorhänge auf, stellte die beiden Fenster auf Kipp und
zündete eine Kerze an. “Wie geht es dir?”
“Ach”, sagte er, “gut, mir geht es gut. Was soll ich schon sagen? Und dir, wie geht es dir? Was machst du? Bist du noch in Deutschland?”
“Ja, ich habe immer noch meinen Job in der Betreuung von Spätaussiedlern. Ist nicht leicht. Sind schwierige Leute dabei, aber es macht Spaß. Mein Studium habe ich bald fertig. Sie helfen mir
viel, wohl weil ich schon älter bin. Es ist gut in Deutschland und leicht ist es nirgendwo. Ich freue mich, dass ich dich wiedersehe. Du überlebst mich bestimmt noch mal, und wer besucht dich dann?
Ich muss mir richtig Sorgen machen.”
“Ach Maria”, ein stilles Lächeln war in seinem Gesicht zu sehen, “Du kommst nur einmal im Jahr nach Kiew und trotzdem, du schenkst mir so viel Freude. Was haben wir schon für schöne Stunden
miteinander gehabt.”
Sie legte den Kopf für einen langen Moment an seine Schulter, nahm dann seine Hand und hielt sie fest. Sie sprachen lange kein Wort.
“Mein Herz schlägt immer langsamer. Ich spüre, wie meine Kraft jeden Tag nachlässt. Manchmal hört es einen Moment auf zu schlagen. Alles ist ruhig und ich denke, das ist jetzt der Tod. Ich muss jetzt
gehen. Dann setzt es wieder ein. Es ist ein Gedanke, der mich nicht sterben lässt. Ich , ich…” Es fiel ihm offensichtlich schwer, einen Anfang zu finden. Es war zu sehen, dass ihn etwas sehr
bedrückte. “Maria, ich muss noch etwas erledigen… Sieh mal dort hinter der Schrankecke, dort steht ein Koffer, kannst du ihn mal holen und öffnen?”
Maria öffnete den Koffer und fand darin ein Akkordeon. “Es ist schön und bestimmt sehr alt. Was ist mit dem Akkordeon? Ich wusste gar nicht, dass du ein Instrument spielst.”
“Nein, spiele ich auch nicht.” Unvermittelt begann er zu erzählen. “Ich war im Krieg Soldat der Roten Armee. Wir gehörten zu einer Gruppe, die Berlin eingenommen hat.
Nach langen Kämpfen, nach 6 Jahren Krieg, war mit einem Schlag plötzlich alles vorbei. Waren wir Sieger? Ich fühlte mich nicht so. Ich hatte alles verloren, meine Eltern, meine Geschwister. Das
bisschen, was wir besessen hatten, war vernichtet. Wenn meine Kameraden davon sprachen nach Hause zu fahren, dann war in mir nur Verzweiflung, Hass auf den Krieg, auf die, die ihn begonnen hatten.
Hass auf die Deutschen, die Schuld waren an allem, was ich erlebt habe, was ich aushalten musste. Ich hatte eine Menge von ihnen getötet. Es war Krieg. Mein Hass, meine Wut hatten mich zu einem guten
Soldaten gemacht. Nachdem ich wusste, dass meine Familie ausgelöscht war, hing ich nicht mehr an meinem Leben. Ich spürte keine Angst mehr vor dem Tod - im Gegenteil, ich erwartete ihn jeden Tag. Wie
schnell es vorbei sein konnte, hatte ich oft genug erlebt. Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen, war mutig und draufgängerisch und überlebte.
Wir liefen durch Berlin. In einer Straße trafen wir auf einen Deutschen, der dort mit seinem Akkordeon stand. Er hörte auf zu spielen, als er uns sah. Ich sagte: “Spiel!” Er nahm sein Akkordeon ab
und packte es ruhig in seinen Koffer. Ich sagte wieder: “Spiel!” Er reagierte nicht. Ich hatte meine Waffe von der Schulter genommen und entsichert. Er sagte: “Meine Quetschkommode spielt nicht für
euch!”
In mir stieg eine wahnsinnige Wut hoch. Sie, die Deutschen, die Schuld waren an allem Übel in der Welt, verweigerten mir einen kleinen Gefallen? Ein kleines Lied? Ich hob mein Gewehr, forderte
ihn ein letztes Mal auf zu spielen, er weigerte sich, dann habe ich ihn erschossen. Sein letzter Blick war erstaunt, ungläubig. Er hatte gerade den Krieg überlebt, und das war jetzt sein Ende?
Ich nahm seinen Akkordeonkoffer und ging. Offiziell hatte er Widerstand gegen die Rote Armee geleistet. Es war in diesen Tagen kein Problem, jemanden zu erschießen, wir hatten zu viele Jahre nichts
anderes gemacht. Wir waren die Sieger. Wir waren im Recht.
Ich habe mir das Instrument über die Schulter gehängt. Kriegsbeute!
Wie oft ich auch nach dem Krieg umgezogen bin, ich habe es immer mitgenommen. Es hat nie jemand darauf gespielt. Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass ich den Mann ermordet habe. Auch wenn
wir uns in einer schwierigen Situation befanden. Ich habe immer wieder und immer wieder darüber nachgedacht. Warum wollte er nicht für uns spielen? War er ein Nazi, der uns Russen hasste? Warum
hasste er uns? Hatte auch er seine Familie verloren? Warum habe ich nicht länger mit ihm gesprochen? Ich konnte genug Deutsch. Warum erschieße ich einen Mann, nur weil er für mich keine Musik
machen will? Ich fühle mich schuldig. Zu was macht der Krieg uns fähig? Was war ich für ein Mensch? Ich habe nie mit jemanden darüber gesprochen. Du bist die erste. Nicht mal meine Frau hat gewusst,
warum ich das Akkordeon mitgeschleppt habe. Ich habe immer gesagt: “Erinnerung an Deutschland!” Da wo ich jetzt hingehe, kann ich es nicht mitnehmen. Kannst du das Akkordeon mit nach Deutschland
nehmen und es irgendjemandem schenken, der schön darauf spielen kann und den Menschen die Freude geben kann, die ich den Deutschen damals genommen habe? Es nimmt mir nicht meine Schuld, aber es würde
mich erleichtern.”
Maria umarmte den alten Mann. Sie weinten lange Zeit. Dann stand sie auf und nahm das Akkordeon. Sie sahen sich an, ohne ein Wort zu sagen. Es war einfach nicht nötig. Noch einmal nahm sie seine
Hand. Sie wussten, dass sie sich nicht wiedersehen würden. Dann ging Maria. Erschöpfung, aber auch Erleichterung konnte man in dem Gesicht des alten Mannes sehen. Er schlief.
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