Aufbruch
Am 5.6.1961 lief im NDR der Film: „Meinbrexen - die dörfliche Idylle und ihre Kehrseite.“ Meinbrexen ist mein Geburtsort, 1961 war ich 12 Jahre alt. In dem Film bin ich zwei Mal kurz zu sehen. Leicht zu erkennen an meiner dunkelblau -weiß gestreiften Bommelmütze, die meine Oma aus einer aufgeribbelten Jacke neu gestrickt hatte.
Lang durch das Dorf, neben der Kopfsteinpflasterstraße lief eine Bäke, die für Abwasser und für anderes zuständig war. Fließendes Wasser und Kanalisation gab es damals bei uns noch nicht. Die Plumsklos waren überall im Außenbereich zu finden und die Gruben wurden einmal im Jahr geleert. Der Feuerwehrteich mitten im Ort und alles Brauchwasser musste mit der Handpumpe aus der Erde geholt werden.
Unsere Wohnverhältnisse waren sehr beengt. In dem Haus, in dem ich geboren bin, lebten zu dem Zeitpunkt drei Familien. Vor allem Flüchtlinge. Nach der Schule war ich meistens unterwegs, irgendwo war immer was los. Und irgendwo gab es immer mal ein Stück Brot mit Butter und Marmelade. Nach dem Abendessen ging ich zu meiner Oma. Die lebte auf einem Bauernhof und hatte einen Platz, an dem ich schlafen konnte. Der Weg zur Schule war nicht weit, pünktlich sein war für mich trotzdem nicht so einfach.
Die Schule war eine typische zweiklassige Volksschule Klasse 1-4 und Klasse 5-8. Das 9. Schuljahr wurde erst 1963 eingeführt. Im Winter mussten wir die Schule heizen, im Sommer im Schulgarten arbeiten und manchmal auch im Pfarrgarten. Die Weidengerten für die Prügelstrafe holten wir im Herbst aus dem Wald. Im Sommer fand der Sportunterricht auf den Wiesen, den Feldwegen und auf dem kleinen Schulhof statt. Im Winter auf dem Saal im „Weißen Ross“. Mein Verhältnis zu den Lehrern war eher suboptimal. Meine Glanzzeiten hatte ich, wenn Studenten ins Landschulpraktikum kamen. Ich will nicht sagen, dass mich die Schule nicht interessiert hat, das war schon manchmal interessant. Geschichte, Musik, Lesen und Kopfrechnen waren so meine Stärken. Mündlich konnte ich immer etwas rausreißen, weil ich so belesen war. Mit der Hand schreiben – furchtbar. Mit rechts ein Bild tuschen – grauenhaft. Kopfrechnen konnte ich gut – die Zahlen fachgerecht in die Kästchen zu schreiben, das gelang mir eher selten. Ich durfte immer den Filmapparat bedienen, einfädeln und zurückspulen. Davon habe ich noch als Junglehrer profitiert.
Das 9. Schuljahr fand dann in der Mittelpunktschule Boffzen statt. Da wurde nicht mehr geprügelt. Dafür gab es Fächer wie Biologie und Physik. Sogar eine AG Englisch wurde eingerichtet. Jeden Morgen mit den Mädels und Jungs aus den Nachbargemeinden mit dem Schulbus durchs Weserbergland! Herrlich!
Das Wirtschaftswunder machte aber auch vor uns nicht halt. Die Wohnungsgröße verdoppelte sich, wir bekamen eine große Küche, die alte Küche wurde zum Badezimmer umgebaut (ca.6 qm). Wir bekamen einen Fernseher und ich meine erste Gitarre. Mein erstes Lied war „Alles vorbei Tom Dooly“ von den Nilsen Brothers. Die Akkorde passten nicht immer zu den Liedern, die ich sang, aber ich ließ mich davon nicht abhalten, munter drauf loszuspielen. So gern ich auch die Rolling Stones hörte, meine Gitarre klang immer nach Lagerfeuer, Sehnsucht und deutschem Schlager.
Schon als Kind habe ich unglaublich viel gelesen. Ich las praktisch alles, was ich in die Finger bekam. Die „Heimat und Welt“ von meiner Oma, die komplette Jugendbücherbibliothek in unserer Schule und auch noch, mit Sondererlaubnis, einen großen Teil der Erwachsenenbibliothek. Als Lehrling, gut versorgt mit steuerneutraler Arbeit, begann ich mich regelmäßig in Buchläden herumzutreiben, ein Hobby, was sich bis heute gehalten hat. Schwimmen lernten wir in der Weser und der Kindergarten bestand aus der übergelassenen Nissenhütte der englischen Soldaten. Das Wasser für das Vieh wurde entweder in der Regentonne aufgefangen oder mit dem Trageholz auf das Feld getragen. Nach dem Melken diente das Trageholz dazu, die Milch in Kannen wieder auf den Hof zu tragen. Mitten im Dorf steht das Schloss der Familie von Mansberg mit dem Freimauerpark drum herum. Willkommener, wenn auch verbotener, Spielplatz für uns Kinder. Aus einer Quelle kam das Trinkwasser für einige Familien und an einer Stelle, wurde die Wäsche klargespült. Dort trafen sich die Frauen an den Waschtagen. Die Wasserversorgung und die fehlende Kanalisation waren in vielen Dörfern noch weit verbreitet. Wer nicht in der Landwirtschaft oder im Handwerk arbeitete, fuhr zur Arbeit in die nahegelegene „Herlag“, größter Arbeitgeber der Region. Zwei Kneipen, ein Bäcker mit Kolionalwarenladen, ein Konsum, ein Schlachter und eine Genossenschaft. In diesem Umfeld bin ich aufgewachsen, mal mehr, mal weniger glücklich, mit vielen Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Die große weite Welt lernte ich über die Bücher kennen.
Mit 14 war ich schon, für damalige Verhältnisse, sehr groß und sehr kräftig. Wir Konfirmanden waren eingeteilt, die Glocken, unter Leitung des Küsters, zu läuten und auch mal bei Beerdigungen und Hochzeiten mit auszuhelfen.
Neben der Arbeit in der Landwirtschaft, Rüben verziehen und Kartoffeln auflesen hatte ich meinen ersten festen Job. Ausrufer in unserem Dorf. Ich verfügte über eine laute und kräftige Stimme, konnte Texte gut erfassen und auch schwierigere Wörter aussprechen. Der letzte Ausrufer hatte sich aus gesundheitlichen Gründen zur Ruhe gesetzt. Also bimmelte ich mit meiner Glocke an allen markanten Punkten und rief mit lauter Stimme: „Der Gemeindedirektor hat bekanntzugeben …!“
Weniger glücklich war ich vor allem in der Schule. Ich war ständiges Opfer der Prügelstrafe, die ja noch nicht verboten war, musste permanent Schönschreiben üben, obwohl es doch die Schule war, die mich gezwungen hatte, mit Rechts zu schreiben. Neben den eigenen Schlägen mussten wir fast täglich zusehen, wie Mitschüler verprügelt wurden und Mitschülerinnen Schläge auf den Rücken oder in die Hand bekamen. Im letzten Jahr war ich dann in Boffzen in der Mittelpunktschule. Langsam wurde es besser und es begann auch etwas Spaß zu machen. Musik war toll! Die Musiklehrerin ebenfalls. Nach der Schule begann ich eine Maurerlehre, engagierte mich in der Gewerkschaftsjugend, der Landjugend, in der Feuerwehr und im Spielmannszug. Einen gemeinsamen Urlaub mit der Familie hatten wir nie. Dafür fehlte immer das Geld, Urlaub war aber auch noch nicht so weit verbreitet. Mit meiner Oma war ich in den Ferien einige Male in Dortmund gewesen, in der Stadt, in der mein Opa Heinrich beerdigt war. Meinen ersten eigenständigen Urlaub verbrachte ich mit der Landjugendgruppe 1966 an der Ostsee.
Am 1. April 1965 lief ich mit einer Schubkarre durch Derental, auf der Suche nach einer Bogenschnur. Mit einer Drahtrolle und einer Kiste Bier kam ich zurück zur Baustelle.
Meine Lehrjahre auf dem Bau haben viel zu meiner Entwicklung beigetragen. Die Arbeit war, gerade im ersten Jahr, sehr kräftezehrend, dann wurde ich kräftiger und kräftiger. Es war sehr viel Hand- und Tragewerk zu erledigen. Die Kräne waren erst am Ende der 60er Jahre auf den kleinen und mittleren Baustellen zu sehen. Zementsäcke, Steine, Stahlträger wurden mit der Hand und auf dem Rücken an ihren Bestimmungsort befördert. Beton wurde von der Mischmaschine in die Karren gekippt und dann über manchmal abenteuerliche Bohlenwege auf die eingeschalte Decke gefahren. Für die zweite Decke kam dann kurzzeitig ein Förderband. Anerkennung für Leistung, eigenes Geld verdienen und viel Arbeit in der Kolonne (heute sagt man Teamarbeit) haben mich schon sehr geprägt. Mitverantwortlich zu sein für die Baustellen, für die eigene Sicherheit und die der Kollegen, mit viel rustikalem Humor, und viel gegenseitiger Unterstützung. Ich bin bis heute dankbar, dass ich auf dem Bau sein durfte, statt in einem Gymnasium der 60er Jahre. Zu meinen Arbeiten gehörte ein längerer Einsatz im firmeneigenen Steinbruch und eine vorübergehende Tätigkeit als Friedhofsgräber. Durch die vielen Umbauten und Ausbesserungsarbeiten habe ich Land und Leute kennengelernt.
Früh wurde ich, auch durch väterliche Prägung, Mitglied und Jugendfunktionär der Gewerkschaftsjugend. Von da an war ich viel unterwegs. Konferenzen, Gewerkschaftstage, Jugendtreffen, Seminare. Ich schrie schon hier, wenn die Frage, wer nimmt teil, noch gar nicht wirklich ausformuliert war. Dadurch lernte ich Deutschland kennen, Hamburg, Berlin, Köln, Frankfurt. In Berlin schlug ich meinen Kumpels mal vor, zum Brandenburger Tor zu laufen. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass das von unserem Hotel noch 25 Kilometer entfernt war. Für mich, der häufig zu Fuß von einem Dorf in das nächste unterwegs war, unvorstellbar. Die Gewerkschaftsjugendgruppen hatten eigene Fußballmannschaften und spielten auch gegeneinander. (stehend 1. von links)
Einmal in der Woche musste ich zur Berufsschule. Vier Maurerlehrlinge aus Lauenförde – morgens mit dem Schienenbus nach Uslar. In der Nähe vom Bahnhof gab es einen Kiosk mit Fassbierausschank. Die Kioskbesitzerin hatte unsere Gläser schon bereitgestellt, sie wusste, dass wir nicht so sehr viel Zeit hatten. Die Ausrede, der Zug hatte Verspätung, durfte nur in Notfällen verwendet werden.
Auch an den Wochenenden floss das Bier reichlich. Jedes Dorf feierte seine Feste im Sommer und die Bälle im Winter. Da ging es immer zur Sache. Die Kriegsgeneration holte die verlorene Jugend nach und wir feierten und tranken mit ihnen. Die Jahre waren geprägt durch Arbeit und Feiern.
Die Menschen bauten sich ihre Eigenheime überwiegend in Eigenarbeit mit Nachbarschaftshilfe. Nach der eigentlichen Arbeit ging das noch einmal richtig los. Ein Haus kostete damals so etwa 15.000€. Dafür bekommt man heute ein Carport.
Mit der Zeit verlor ich das ängstliche Gefühl, wenn ich durch eine Stadt lief. 1968 in Berlin bekam ich Kontakt zur studentischen Szene. Da Berlin weit weg war, fuhr ich in der Folgezeit häufig am Wochenende nach Göttingen. Ich kannte dort Leute, die im SDS und in der AGL (Aktionsgemeinschaft Göttinger Lehrlinge) organisiert waren. Eine furchtbar chaotische, aber sehr sympathische Gruppe. Sonntags fuhr ich wieder nach Hause, am darauffolgenden Tag ging ich wieder zur Arbeit auf den Bau. Ich habe das Leben auf dem Dorf sehr geliebt. Ich hatte viele Freunde und tolle Arbeitskollegen, von denen ich menschlich und handwerklich viel gelernt habe.
Meine ersten drei Freundinnen hießen Bärbel … drei Mal verliebt, drei Mal Liebeskummer.
Inzwischen hatten wir fließendes Wasser, ein Badezimmer und ein Klo mit Wasserspülung. Manchmal bedauerte ich es, wenn ich nicht jedes Dorffest im Umkreis mitnehmen konnte. Bestimmt galt ich bei einigen auch schon als komischer Vogel. Ich war allerdings nicht der einzige Jugendliche, der lange Haare und Schlaghosen trug. Auch andere liebten die Rolling Stones! Trotzdem zog es mich immer wieder in die Stadt. In Göttingen abends in den Studentenkneipen, wilde Tanzorgien im True, und immer wieder Veranstaltungen und Seminare. Ich wohnte dort immer irgendwo und bekam schnell Kontakt zu einigen Wohngemeinschaften oder Kommunen wie man damals sagte.
Ich sog das alles auf wie ein Schwamm. Freitagmorgen auf dem Bau. Freitagabend eine Diskussion über den langen Arm des Faschismus in den 60er Jahren. Und dann wildes Gegröhle nach Ton Scheibe Scherben. Und zwischendurch meine ehrenamtliche Arbeit in den Gewerkschaften, in denen ich vielleicht mal als Funktionär arbeiten wollte.
Ich begann mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, ganz nach Göttingen zu ziehen. Ein „Genosse“ bekam eine zeitlich begrenzte Stelle in einem Studentendorf und ich bekam die Chance, für diese Zeit in seine Wohnung zu ziehen. Ein Zimmer, Küchenecke, Waschbecken und Klo auf dem Flur. Bestes Kneipenviertel und nur ein kurzer Weg bis zum Gänseliesel.
Damals gab es noch Schlechtwetterzeit auf dem Bau und ich hatte 4 Monate Zeit, mit Erlaubnis meines Chefs, mich sesshaft zu machen. Zum 1.4.1970 zog ich endgültig nach Göttingen. In meinem Kopf reifte so langsam der Plan, doch eher nicht in der Gewerkschaft zu arbeiten, sondern lieber zu studieren und Lehrer zu werden, so wie die, mit denen ich täglich zusammen war.
Nachtrag: Apropos Ton Steine Scherben: Über 50 Jahre später tourte Jan Plewka mit den Liedern von Rio Reiser durch das Land. Ich habe das Konzert in der Kulturetage erlebt. Im Publikum ergraute Lehrer, glatzköpfige Rechtsanwälte, und gutsituierte Mediziner, schon vor einigen Jahrzehnten angekommen in der demokratischen Mitte der Gesellschaft. … Bei „Keine Macht für niemand“ quälten wir uns, nach Aufforderung von Jan P. aus den Sitzen und reckten die Faust in die Höhe. Ich musste so über die kuriose Situation lachen, dass ich mich schließlich wieder hinsetzen musste. Die Lachtränen rieselten nur so meine Wangen hinunter.
In meiner Jugend erlernte ich den Beruf des Maurers. Wir waren in meinem dritten Lehrjahr mit einem Umbau beschäftigt, in den die jungen Leute nach ihrer Hochzeit einziehen sollten. Die jungen Leute mussten auf Grund glücklicher Umstände früher heiraten als geplant, der Umbau war noch nicht fertig, aber trotzdem sollte ja alles ruhig und nach altem Brauch und Sitte vor sich gehen. Am Montag nach der Hochzeit gab es um 9.00 Uhr ein üppiges Frühstück. Neben allen Köstlichkeiten, die bei so einer Hochzeit übrigbleiben, gab es auch noch jede Menge Schluck und Bier. Gegen Mittag, wir hatten das Frühstück noch längst nicht abgeschlossen, kam unser Chef. Wir schrieben das Jahr 1967. Vollbeschäftigung, ca. 300.000 Arbeitslose, absoluter Mangel an Facharbeitern. Schwarzarbeit war eine geduldete Form der Bewältigung von Aufgaben, die das Handwerk innerhalb der normalen Arbeitszeit gar nicht bewältigen konnte.
"Wir haben ein riesengroßes Problem", sagte mein Chef, „ich verstehe ja, dass ihr hier feiert, ihr habt das ja auch vorher angekündigt und der Bauherr übernimmt die Stunden, bzw. ihr holt die wieder rein, aber der Friedhofswärter ist gestorben und es gibt leider ein Gesetz, was klar regelt, dass der örtliche Bauunternehmer in so einem Fall für die Aushebung des Grabes verantwortlich ist. Ihr müsst sehen, dass ihr das geregelt bekommt. Ich nehme den Lehrjungen schon einmal mit und lege das Grab an, der kann dann schon einmal anfangen. Es ist nicht einfach, weil wir die gesamte Erde nicht direkt am Grab lagern können. Also, Spitzhacke, Schippen und zwei Karren. Spaten habe ich zwei neue gekauft. Wer weiß, bis wann die einen neuen Friedhofsgärtner finden. Ihr anderen beiden kommt dann gegen Mittag nach. Ich gebe auch noch eine Kiste Bier aus. Der Gräberschmuck war von dem gesamten Grab schon entfernt worden.“ Die Maße für das neue Grab waren schnell abgesteckt. Ich begann die Erde auszuheben und auf die Karre zu laden. Mit der Karre musste ich ca. 10 Meter fahren, bis ich an den von mir angelegten Erdhaufen kam. Es musste rund um das frische Grab genügend Raum sein, um der Beerdigungsgesellschaft einen angemessenen Platz für ihren Abschied zu geben.
Es ging zügig voran, jedenfalls die ersten 50 cm. Das Grab hatte die Maße 2,40m x 0,90m x 1,70m. Wobei eins klar ist, das Problem besteht nur in der Tiefe. Als ich auf etwa 70 cm angekommen war, kamen meine beiden Kollegen. Beide waren so richtig guter Dinge, etwa so wie auf einem Feuerwehrball gegen Mitternacht. Auch ich hatte schon einiges an Alkohol intus, als ich mit dem Ausschachten begonnen hatte. "Pause! Trink erst einmal ein Bier und schenk einen Schluck ein. Wir haben noch einen wunderbaren Kräuterschnaps mitgekriegt, der darf nicht schlecht werden."
Wir machten Pause, tranken Bier und Kräuterschnaps, rauchten die bei der Hochzeit übergebliebenen Zigaretten und ab und zu lud ich einige Karren voll Erde. Als ich bei etwa einem Meterzwanzig angekommen war, brach eine größere Erdschicht ab und füllte mein frisch geschaufeltes Grab wieder beträchtlich voll. An der belegten Seite des Doppelgrabes wurde der Holzsarg sichtbar. Eiche, rustikal, gut erhalten. Inzwischen war auch unser Chef wieder eingetroffen. Hatte gefallen an dem Kräuterschnaps gefunden und sich damit getröstet, dass hier und jetzt ein völlig neuer Geschäftszweig aus der Taufe gehoben wurde. "Stift, du wirst der Betriebsleiter für Friedhofangelegenheiten. Komm raus aus deinem Loch, darauf trinken wir einen. Es gab Kräuterschnaps, Bier und immer noch Zigaretten aus dem Restbestand der Hochzeitsgesellschaft. Der Bräutigam rauchte eh nicht und die Braut hatte sich das Rauchen auf Grund der schon erwähnten glücklichen Umstände schnell abgewöhnen müssen. Unser Chef sagte: "Hätte ich dem Tischler gar nicht zugetraut, dass der so gute Arbeit leistet. Lina ist doch schon 12 Jahre tot und immer noch ist der Sarg völlig intakt. Er nahm meine Schippe und schlug in seinem etwas benebelten Zustand gegen den Sarg: "Lina, hörst du uns?" Lina hörte natürlich nicht, jedenfalls antwortete sie nicht, aber wir hörten dafür das Splittern von Holz. Der anschließend sich ausbreitende Geruch ließ uns schnell in Richtung meines Erdhaufens ziehen. Ich sagte:" Die eine Hälfte des Grabes habe ich ausgehoben, jetzt seid ihr beide dran." "Kuck mal, der Stift, kaum hat er mal ein Bier und einen Schluck getrunken, schon wird er kiebig." "Ne, keine Angst, ich bin nur etwas geruchsempfindlich!" "Ach", sagte Jochen, "kein Problem, wir sind doch ein Bauunternehmen, das Loch im Sarg schmieren wir einfach wieder zu." Er nahm meine Schippe und verschloss schmierte das Loch mit Lehm. Daran konnte man deutlich sehen, worin sich ein Lehrling oder Geselle von einem langjährigen Maurermeister unterschieden.
Die ersten Knochenfunde waren nicht ganz so problematisch, inzwischen war ich auch zu betrunken, um noch alles mitzukriegen, aber auf 1,50 Centimeter war ich auf einen Hüftknochen gestoßen, der noch ziemlich fest in seinem Hüftgelenk verankert war. Erste vorsichtige Versuche brachten gar nichts. "Ich brauche noch einen Schnaps und die Spitzhacke." Ich bekam meinen Schnaps, hackte den Knochen ab und schmiss ihn ohne Vorwarnung aus dem Loch. Der Geselle verzog sich daraufhin in die Büsche und gab unfeine Geräusche von sich. Nachdem ich gemeldet hatte, dass die 1,70 Meter erreicht waren, es gab in der Tat eine Stelle, die 1,70 Meter tief war, musste ich mich mit Hilfe einer Bierkiste, der Spitzhacke und meiner Schaufel selbst aus dem Grab befreien. Angesichts meines Zustandes war das vermutlich meine größte Leistung an diesem denkwürdigen Tag. Mit Hilfe der Schippe angelte ich liegend die Bierkiste und die Spitzhacke aus dem Grab und war der vollen Ansicht, dass ich mir die darauffolgende Flasche Bier redlich verdient hatte. Insgesamt habe ich in den nächsten Wochen noch 5 Gräber ausgehoben, meist mit einem Stift aus dem ersten Lehrjahr. Unser Chef spendierte uns in seiner grenzenlosen Großzügigkeit anschließend immer ein Jägerschnitzel.
Heimat
Meine Lieblingsstrecke auf der Fahrt ins Weserbergland führt mich nach Hameln und von da an immer an der Weser entlang bis nach Meinbrexen. Mein Blick fällt ab dem Eulenkrug auf die Eisenbahnbrücke, hinter der das Dorf beginnt. Erinnerungen ziehen von da an in schneller Reihenfolge durch meine Gedanken. Siebrechts Mühle, da wo früher unser Friseur sonntags Schere und Messer zückte, Schulzes Bauernhof, die alte Post mit der Stellmacherei. Die Genossenschaft, das Rittergut und die alte Schmiede. Obwohl es streng verboten war, hielten wir uns im Schlosspark immer gern auf. Der alte Wachturm war damals fast zugewachsen und ein herrlicher Treffpunkt. Wir waren die Ritter und die Räuber. Der Baron, Lothar von Mansberg, schoss gerne mal mit Schrot in die Luft, um uns zu vertreiben. Die Kirche, in der wir Konfirmanden die Glocken noch per Hand läuten mussten. Der Wasserteich für die Feuerwehr und die alte Dorfschule mit zwei Klassenräumen für alle Jahrgänge. Ein Lehrer, der sehr engagiert gearbeitet hat, den ich aber trotzdem nicht mochte. Die ständigen Gewaltausbrüche und Prügelstrafen, darüber war ich schon als Kind wütend. Ich war lesesüchtig, las alles, was mir in die Finger kam und hatte die Kinder- und Jugendbibliothek schon mit 14 Jahren komplett gelesen. Ein grundlegendes Verständnis davon, was moralisch richtig ist, hatte ich damals schon. Ungerechtigkeiten konnte ich nur schwer ertragen. Die Prügel bekam ich trotzdem, immer 10 Schläge mit dem Stock. Die Stöcker mussten wir selbst von den Weiden schneiden.
Mitten im Dorf war eine Wasserentnahmestelle, der Treffpunkt für alle Kinder und Jugendlichen. Später waren unsere Treffpunkte dann die beiden Dorfkneipen. Dort konnten wir die Sportschau gucken, die Bundesliga und die Weltmeisterschaften.
Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen mussten dringend geheim bleiben. Selbst meine Freunde durften nicht erfahren, welchem Mädchen ich meinen ersten Kuss verdanke und welchem Mädchen die ersten Berührungen.
Die vielen Dorffeste und Feiern, immer spielte einer Quetschkommode und wir sangen alle Lieder „aus dem Kopf“ mit. Dann wurden die Nachbardörfer interessant. Die Landjugend in Derental und die Gewerkschaftsjugend in Lauenförde. In Derental spielte ich Fußball. Entweder als Holzhacker oder weil sonst kein 11. Spieler aufzutreiben war. Meine Lehre machte ich als „Stift“ auf dem Bau. Bis heute schätze ich sehr, was ich dort alles gelernt habe. Die Zusammenarbeit, sich aufeinander verlassen können, füreinander einstehen. Es hat mich stark geprägt. Ich hatte u.a. den Taugenichts gelesen und war fest entschlossen, ebenfalls in der Fremde mein Glück zu suchen. Durch die Arbeit in der Gewerkschaftsjugend hatte ich viele Kontakte in ganz Niedersachsen. Über den zweiten Bildungsweg habe ich dann studiert, während meines Studiums fuhr ich regelmäßig mit dem Fahrrad von Göttingen nach Meinbrexen. Schon damals war mir sehr bewusst, in welch schöner Gegend ich aufgewachsen bin. Das Internet macht es leicht, die Kontakte aufrecht zu erhalten und immer auf dem Laufenden zu sein.
Es war mir immer klar, ich werde nicht wieder nach Meinbrexen ziehen, aber irgendwann möchte ich wieder auf dem Dorf leben, in schöner ländlicher Umgebung und mit einem bunten Vereinsleben. Wiefelstede habe ich 1976 kennengelernt. Von Anfang an habe ich mich dort sehr wohl gefühlt. 2004 sind wir dann nach Bokel gezogen. Bokel kannte ich u.a. von den jahrzehntelangen Besuchen der Landjugendfeste. Ein Dorf, welches mich vom Dorfleben sehr an meine erste Heimat erinnert. Wer einmal auf dem Dorf gelebt hat, findet sich hier schnell wieder zurecht. Die Bokeler machen es den Neubürgern aber auch besonders leicht, sich hier einzuleben. Wir wurden sehr herzlich begrüßt und schon kurz nach meinem Umzug rief mir Elfriede Oltmanns, die ich bis dahin noch gar nicht kannte, ein fröhliches „Moin, Ecki“ zu. Ich wusste genau in diesem Moment, hier bin ich richtig.
An dem Leben hier in der Gemeinde gefällt mir, dass ich allein schon durch meine berufliche Tätigkeit wahnsinnig viele Menschen kenne und ich auf das distanzierende „Sie“ fast völlig verzichten kann. Ich lese die lokalen Nachrichten, egal wo ich gerade auf der Welt bin und es ist selbstverständlich für mich, mich ehrenamtlich zu engagieren. Ich bin jeden Tag begeistert von dieser Landschaft um uns herum. Auch wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, halte ich zuweilen an, weil Wolken und Licht gerade wunderschöne Bilder zaubern. Das Heimatmuseum, der Gesangverein und das Schnulzensextett bereiten mir besonders viel Freude.
Eckard Klages (74)